Wir starten unsere Reise rasant im Museumsturm von Luma Arles, entdecken die Welt Yves Saint Laurents in einer alten Lokhalle und bewegen uns auf den Spuren von Van Gogh im Hôtel-Dieu
1. Tag
Share„Bon courage!“ Die alte Dame, die neben mir neugierig in die Öffnung der Röhre späht, wünscht mir viel Glück. Dann geht es für mich abwärts. Rasant. Die Rutsche des Künstlers Carsten Höller im Museumsturm von Luma Arles ist eine wilde Kurvenfahrt über mehrere Stockwerke. Und vielleicht auch eine Art Metapher für das provenzalische Arles, das hinter jeder Biegung Überraschendes zu bieten hat, von römischen Bauten bis zu zeitgenössischen Attraktionen.
Alle Blicke zieht der von Frank Gehry für die Luma Foundation der Schweizer Milliardärin Maja Hoffmann entworfene Turm auf sich – schon weil er dank 11000 verbauter Stahlziegel das berühmte Licht der Region je nach Wetter unterschiedlich reflektiert. In der heißen Julisonne lassen sich die Arlésiens in fröhlichen Familienausflügen auf das Gelände locken, denn der Eintritt in den Turm und die Nebengebäude der LUMA Foundation ist für alle Besucher frei. Nicht wenige vertiefen sich in Koo Jeongs multimediales Œuvre im Kellergeschoss. Oder in das Ausstellungsprojekt EBB („Extended Body Boundaries“), in dem sich künstlerische Positionen kritisch mit Technologien wie KI, Algorithmen und Personalisierung auseinandersetzen. Fast noch sensationeller wirkt allerdings die Umgebung des Turms: Das öde Schottergelände einer ehemaligen Lokomotivenfabrik, über das man sonst in der Hochsaisonhitze schlich wie durch eine Wüste, hat der Landschaftsarchitekt Bas Smets in eine Oase verwandelt – mit vielen Bäumen, Gras, einem kühlenden Teich!
Der Zeitgeist fegt über das Areal, wenn traditionell im Sommer das renommierte Fotofestival „Rencontres d’Arles“ eine der alten Lokhallen übernimmt: In der Mécanique Générale zeigt die Ausstellung „Yves Saint Laurent and Photography“ die enge Beziehung des berühmten Modedesigners zur Fotografie. Über 80 Fotografien von Künstlern wie Richard Avedon, Irving Penn, Helmut Newton oder Annie Leibovitz, dokumentieren Saint Laurents Mode, sein Porträt und seine Zeit. Bis zum 5. Oktober laufen zahlreiche Fotoschauen der „Rencontres“ in der Stadt.
Im Café du Parc zu Füßen von Gehrys Turm stärken wir uns mit Antipasti und Tramezzini. Dank eines wundervollen Bodenmosaiks der Künstlerin Kerstin Brätsch sieht sich hier auch das Auge satt. Danach verlassen wir Luma Arles gen Süden und besuchen das Gräberfeld Alycamps. Diese römische Nekropole ist heute mit ihren aufgereihten Steinsarkophagen unter alten Platanen und Zypressen der perfekte Ort für eine Nachmittagspromenade. Sie war auch Motiv für den Wahl-Arlésien Vincent van Gogh und seinem Malerfreund Paul Gauguin.
Wir laufen nun zurück Richtung Innenstadt, überqueren den Boulevard des Lices, wo sich samstags beim Wochenmarkt Berge reifer Tomaten und Melonen auftürmen. Am repräsentativen Place de la République bezaubern das elegante Rathaus, 1676 errichtet vom einheimischen Architekten Jacques Peytret als barockes Stadtpalais, und die romanische Kirche Saint-Trophime, deren figurenreiches Portal Christus als Pantokrator zeigt, der die Menschheit in Auserwählte und Verdammte scheidet. Auch in dem ehemaligen Kloster laden Rencontre-Teilnehmerinnen wie Raphaëlle Peria ein in die Welt der Fotografie: Ausgehend von ihren verblassenden Kindheitserinnerungen an eine Reise auf dem Canal du Midi verbindet die Künstlerin persönliche Familienarchive mit ökologischem Verfall.
Pflanzen spielen bei der nächsten Station eine Rolle: Im Hôtel-Dieu, dem ehemaligen Krankenhaus der Stadt, malte 1889 der nervlich angeschlagene Vincent van Gogh zur Beruhigung die Blumen des Innenhofs. Die Bepflanzung wurde rekonstruiert, sodass man den idyllischen Hof als lebendiges Gemälde betreten kann.
Gleich drei grandiose Ausstellungen präsentiert der Espace Van Gogh in diesem Kunstsommer: „Erica Lennard. Women. Sisters“ widmet sich ihrem Fotoprojekt „Les femmes, les sœurs“ von 1976, das die intime Verbindung und das gemeinsame Erleben von Schwesternschaft in zarten, traumartigen Bildern feiert und so feministischen Neubewertungen weiblicher Identität Raum gibt. Eine weitere Schau würdigt das vielseitige Werk von Louis Stettner, der als Brücke zwischen amerikanischer Street Photography und französischer Humanistischer Fotografie gilt. Außerdem gibt es Todd Hidos stimmungsvolle Fotografien zu entdecken, die in kargen Landschaften stille Momente von Schönheit und Melancholie einfangen. Die Ausstellung präsentiert 150 von ihm selbst gedruckte Fotografien sowie Originaldokumente, die seine lebenslange Leidenschaft für soziale Themen, politische Aktivität und künstlerische Vielfalt vom New York der 1940er Jahre bis zu seinen späten Arbeiten in den Alpilles nachzeichnen. Voller neuer Eindrücke beschließen wir also den Abend auf der Terrasse des Restaurants Au Brin de Thym mit Stiersteak aus der nahen Camargue.