Zwischen Dogenpalast und imaginären Räumen

Wir besuchen den Dogenpalast am Markusplatz und gelangen über den Campo Santa Margherita zur Peggy Guggenheim Collection, wo passend zur Architekturbiennale imaginäre und reale Räume in der Malerei ausgelotet werden

Wir beginnen unseren Besuch im schönsten Wohnzimmer der Welt, dem Markusplatz. In den frühen Morgenstunden ist es hier menschenleer und man kann beobachten, wie die Sonne langsam die Mosaiken am Markusdom zum Funkeln bringt. Auf der Piazzetta vor dem Dogenpalast, zwischen den beiden Säulen von San Marco und San Tòdaro, schaut man auf den bacino, das Becken, in dem Canal Grande und Giudecca-Kanal zusammenfließen. Die morgendliche Stille wird erst von Straßenkehrern durchbrochen, dann von Fotografen mit Hochzeitspaaren, die vor dieser atemberaubenden Kulisse posieren.

Für die Frühaufsteher bietet der Dogenpalast ab 9 Uhr neben den pompös ausgestatteten Prunksälen mit Gemälden von Jacopo Tintoretto, Paolo Veronese und Giovanni Battista Tiepolo die Ausstellung „L’Oro dipinto“ (Das gemalte Gold) mit Werken des sogenannten Malers El Greco (Domínikos Theotokópoulos 1541-1614) im Spannungsfeld der kretischen und venezianischen Malerei (bis 29. September 2025). Wer den Rundgang rasch absolviert und einen saltacoda (Schnelleinlass) bucht, kann direkt anschließend in die daneben liegende Markusbasilika, die ab 9.30 Uhr für das Publikum öffnet. Die prächtigen Goldmosaiken, die aufgrund des hohen Salzgehalts in der Luft ständig restauriert werden müssen, erzählen christologische Begebenheiten wie die Translatio (Überführung) der Gebeine des Heiligen Markus von Alexandrien nach Venedig. Übrigens gilt das Ticket seit dem 1. Juli 2025 auch für den Besuch der Basilica di Santa Maria Assunta auf der Insel Torcello in der Nordlagune mit dem berühmten Weltgerichtsmosaik auf der Westwand.

Auf dem Markusplatz befindet sich neben dem Ensemble der städtischen und staatlichen Museen neuerdings auch ein Zentrum für zeitgenössische Kunst. Die Eröffnungsausstellung des San Marco Art Centre (SMAC), unter anderem gegründet von dem deutschen Kunstmanager David Hrankovic, zeigt anlässlich der 19. Architekturbiennale Projekte des in Österreich geborenen australischen Architekten Harry Seidler und der koreanischen Landschaftsarchitektin Jung Youngsun, die als Pioniere der Baukunst gelten.

Markusbasilika Venedig
Das Mosaik aus bunten Glaswürfeln schmückt die Kuppel der Markusbasilika in Venedig. © Orsoni 1888

Wer das pulsierende Zentrum rund um den Markusplatz lieber meiden möchte, der macht es wie die Venezianer und geht zum Rialto-Markt, der morgens um halb acht öffnet. Außer montags gibt es hier eine große Auswahl von saisonalem Fisch und Meeresfrüchten zu bestaunen. Bei den Einheimischen sind jetzt in den Sommermonaten besonders die bovoeti beliebt, kleine Schnecken aus den grünen Küstenstreifen der Lagune, die nur kurz gekocht und dann mit Knoblauch und Petersilie abgeschmeckt werden. Für Vegetarier bietet der Markt frisches Gemüse, unter anderem von der sogenannten Gemüseinsel Sant’Erasmo in der Nordlagune, die besonders für die Artischockenzucht berühmt ist. Wem bei dem Anblick der Köstlichkeiten das Wasser im Mund zusammenläuft, dem sei ein cicheto, ein venezianischer Happen in einer der Bars empfohlen. Die traditionsreiche, bereits 1462 gegründete Weinhandlung Cantina ai do Mori versorgt ab acht Uhr nicht nur Bootsleute und Händler mit typischen Gerichten wie mesi vovi, halbe gekochte Eier, die mit Zwiebeln oder Sardellen garniert werden.

Vom Rialto-Markt aus spazieren wir im Santa Croce-Viertel zum Campo San Giacomo dell’Orio. Am Campo, der rund um die Jakobus-Kirche liegt, ist man mitten im venezianischen Leben. Die Eltern bringen ihre Kinder zur Schule, an der Bar stehen Pensionäre beim caffè auf ein Schwätzchen und der Bäcker trinkt nach der Nachtschicht seinen ombra, einen Einerwein. Wir laufen weiter zum San Polo-Viertel über den weiten Campo San Polo zur nahe gelegenen Frari-Kirche, die um acht zur Frühmesse öffnet. Die Bettelordenskirche bietet einen einzigartigen Überblick über die venezianische Kunstgeschichte und lohnt den Besuch, zumal Tizians fünfhundertjähriges Altargemälde „Mariä Himmelfahrt“ unlängst restauriert wurde und ebenso in neuem Glanz erstrahlt wie seine ebenfalls restaurierte Pesaro-Madonna im linken Seitenschiff. In unmittelbarer Nähe liegt die Scuola Grande di San Rocco, die um halb zehn öffnet, mit dem großen Versammlungsort der karitativen Laienbruderschaft, die bis heute existiert. Die sechzig großformatigen Gemälde von Jacopo Tintoretto (um 1518/19-1594), die sich über zwei Stockwerke erstrecken, wurden mit einem modernen Beleuchtungssystem ausgestattet, was eine vollkommen neue Seherfahrung ermöglicht.

Wir bleiben im Frari-Viertel und gehen mittags an den Campo San Stin, wo die Bar La Bottiglia mit regionalen Weinen, Handcraft-Bier und lokalen Bioprodukten punktet. Am Ufer sitzt man vor der Prunkfassade des Palazzo Zen, eines der letzten Patrizierpaläste, die noch im Besitz von Nachfahren der Gründerfamilie ist, und beobachtet das via vai der Venezianer. Am frühen Nachmittag werfen wir einen Blick in den Palazzo Vendramin Grimani am Canal Grande, den die französische Privatstiftung Fondazione dell’Albero d’Oro aufwendig restauriert. Während im Piano Nobile die Ausstellung „Di storie e di arte“ (Über Geschichte und Kunst) zu drei Jahrhunderten Leben im Patrizierpalast präsentiert wird (bis 23. November 2025), laufen die Bauarbeiten im zweiten Obergeschoss weiter. Hier sollen Ateliers und Wohnungen für das Residenzprogramm der Stiftung eröffnet werden. Für den exzellenten Mix zwischen dem historischen Interieur des Renaissancepalastes und den Wechselausstellungen der Artists in Residence wie der mexikanische Künstler Bosco Sodi, garantiert die Venezianerin Daniela Ferretti, die schon im Palazzo Fortuny in Zusammenarbeit mit Axel Vervoort preisgekrönte Ausstellungen kuratiert hat.

Anschließend laufen wir über den Campo Santa Margherita zur Peggy Guggenheim Collection, die vermehrt Wechselausstellungen zu Künstlerinnen und Künstlern bietet, die von der exzentrischen Mäzenin gefördert und gesammelt wurden. Hier interessiert uns besonders die Neugestaltung der ständigen Sammlung durch ihre Enkelin Karole Vail, die das Haus seit einigen Jahren leitet. Sie räumt den Werken von Peggys Lebensgefährten Max Ernst und Jackson Pollock mehr Raum ein und misst ihnen somit die Bedeutung bei, die sie im Leben der Amerikanerin innehatten. Vail, die als Kind oft im Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande war, hat außerdem altes Mobiliar neu positioniert, was die vielen Werke von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso, Georges Braques und nicht zuletzt Alexander Calder in einer anderen, privateren Dimension zeigt.

Nach der vielbeachteten Ausstellung „Migrating Objects“ haben auch Meisterwerke afrikanischer und ozeanischer Kunst Einzug in die ständige Sammlung gefunden und bieten einen frischen, weniger eurozentrischen Blick auf die Meisterwerke der Moderne. Bis Mitte September wird passend zur Architekturbiennale eine Einzelausstellung der portugiesisch-französischen Malerin Maria Helena Vieira da Silva gezeigt. Unter dem Titel „Anatomia di uno spazio“ (Anatomie eines Raums) werden imaginäre und reale Räumen in der abstrakten Malerei der Künstlerin ausgelotet, die im Jahr 1943 in der Ausstellung „31 Women“ in Peggy Guggenheims New Yorker Galerie Art of This Century vertreten war (bis 15. September 2025).

In der Dämmerung schließen wir den Tag mit einem Spaziergang zu den Zattere ab, wo wir vom Ufer des Giudecca-Kanals aus den Sonnenuntergang sehen. Die Venezianer setzen sich gerne auf den Holz-Ponton der Bar Da Nico, die in jedem Reiseführer wegen des berühmten Giandiuotto, einem Nougateis mit Sahne, vermerkt ist. Dies gibt es auch a passeggio, wenn man noch eine Runde bis zur Spitze von Dorsoduro, der Punta della Dogana laufen möchte, von der man auf das Markusbecken schaut.

Oder man schlendert über den Campo San Barnaba zum neu eröffneten Sitz der Nicoletta Fiorucci-Stiftung, wo die von Hans Ulrich Obrist kuratierte Ausstellung „To love and devour“ gezeigt wird (bis 23. November 2025). Für die künstlerische Gestaltung des gotischen Gebäudes, in dem zuvor Büros angesiedelt waren, zeichnet sich die in Berlin lebende Künstlerin Tolia Astakhishvili verantwortlich, die für ihr Projekt mit Ketuta Alexi-Meskhishvili, Zurab Astakhishvili, Thea Djordjadze, Heike Gallmeier, Rafik Greiss, Dylan Peirce, James Richards und Maka Sanadze zusammengearbeitet hat. „Tolia hat dieses Haus für einige Monate bewohnt. Anders als sonst hat sie nicht neue Räume in einem White Cube geschaffen, sondern ein Haus, das nicht renoviert wurde, dekonstruiert und verändert. Es ist ein Gesamtkunstwerk“, so Obrist gegenüber WELTKUNST.

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