Die ganze Kunst ist durchzogen von feinstem Gewebe: vom Schweißtuch der Veronika über die große Malerei auf Leinwand bis zu Joseph Beuys’ mythisch durchwirktem Filzanzug. Ein Buch hat nun den roten Faden gefunden
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14.10.2025
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Erschienen in
WELTKUNST NR. 245
Die Kunst braucht guten Stoff. Es gibt offenbar einen besonderen Zauber, einen Kitzel, der für die Zeichnenden und Malenden aller Zeiten von Kleidern ausgeht, von Decken, Seidenstoffen, Vorhängen. Es ist für sie die schönste Herausforderung, mit dem Stift oder dem Pinsel Linien, Farben und Konsistenzen zu erschaffen, die es an „Stofflichkeit“ mit ihrem Sujet aufnehmen. Fängt man einmal an, darauf zu achten, wird die ganze Kunstgeschichte plötzlich zu einer einzigen Stoffsammlung. Außerdem tragen sich die größten Ereignisse der Malerei seit Jahrhunderten auf feinsten Fäden zu – auf dem Gewebe der Leinwand nämlich. Das Tuch im Bild auf dem Bild auf Tuch, das ist ein so verblüffendes wie aufregendes Thema. Und es hat in Stefan Trinks jetzt endlich seinen kongenialen Entdecker und Interpreten gefunden. Trinks setzt als Kunstkritiker der FAZ die große Tradition seines Vorgängers Eduard Beaucamp fort, den Leserinnen und Lesern aus der Tiefe großer Sachkenntnis und der Lust an der originellen sprachlichen Umformung des neu Gesehenen sinnliche Erkenntnisgewinne zu schenken.
In seinem Buch über „Glaubensstoffe“ hat er dies nun zur Meisterschaft gebracht – „Belebte Tücher in der mittelalterlichen und modernen Kunst“ lautet der Untertitel. Dieser erzählt also gleich, worum es hier vor allem geht: um eine Belebung. Die des Bildraumes. Und die unserer Vorstellungskraft. Der Schirmer Mosel Verlag hat daraus ein prachtvolles barockes Buch gewebt.
Die Geschichte der durch Raum und Zeit segelnden Stoffe endet in unserer Gegenwart, über unseren Köpfen, in dem roten „Magic Carpet“ von Pae White, der über den Reisenden im Berliner Hauptstadtflughafen BER an die Faszination des Fliegens und Schwebens erinnert. Und sie beginnt in jenem Moment, als im verlassenen Grab von Jesus Christus statt seines Leibes nur noch das Schweißtuch der Veronika und sein Leichentuch sichtbar waren. Von diesem magischen Moment an, dem Urknall der christlichen Heilslehre, werden die Tücher zu flatternden Hinweisen auf das Wunder der Auferstehung – und auf den Zauber des Transzendenten.
Eigentlich geht es schon viel früher los, nicht erst bei Christi Tod, sondern bei der Verkündigung, festgehalten in den Bilderzählungen der Buch- und frühen Tafelmalerei. Da wird hinter Maria und dem Engel immer wieder der Vorhang geknotet oder dieser gar in den Gemälden von Rogier van der Weyden und Dieric Bouts als herabhängender Knotensack dargestellt: als käme da von oben ein Geschenk des Himmels, eine Leibesfrucht, in feinsten Stoff gehüllt wie in einen magischen Tropfen.
Taucht man mit Stefan Trinks in dieses große Thema ein, verwandelt man sich unweigerlich in einen Detektiv und durchsucht die alte Kunst nach diesen merkwürdigen Stoffgebilden, deren tiefes Rot schon vor der Geburt von der Passionszeit erzählt und für deren vollständige Erklärung oft viel theologisches Wissen notwendig ist. Und die doch immer auch voraussetzungslos funktionieren – als surreale Stofflichkeiten, die wie fliegende Teppiche durch die Geschichte der Begrifflichkeiten und der Stile segeln. Ihre Flugwege sind wie ihre Stoffe im besten Sinne verschlungen.
Hier ist nur Raum für ein paar markante Gewebeproben: Dürers berühmte Federzeichnung von sechs aufgewühlten Kissen etwa. Sie schweben frei durch den Bildraum, auf der Rückseite des Blattes ist ein Selbstbildnis des Künstlers über einem weiteren Kissen zu sehen. Die Kissen sind für Dürer das Symbol für eine grenzenlose Gestaltungsfantasie, weil man in ihre Linien und Schraffuren alles hineinlesen kann: zerklüftete Felsen, Landschaften, Gesichter. Indem Dürer sich auf der Rückseite selbst zeigt und mit den Fingern auf das Kissen verweist, demonstriert er, dass es keine Schweißtücher Christi braucht oder Marienmäntel, um unsere Gedanken schweifen zu lassen – und er zeigt das passenderweise mit dem Kissen, also jenem Ort, an dem wir unseren Kopf betten, wenn er sich nachts endlich ganz den Träumen hingeben darf.
Ist man in Sachen Stofflichkeit erst einmal als Detektiv unterwegs, findet man immer aufregendere Dinge – im berühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald etwa gibt es in den weißen Windeln des kleinen Jesus in Marias Arm genau das gleiche hineingerissene Loch wie im Lendenschurz des Gekreuzigten. Eine subtile Form, schon im Neugeborenen den sich für die Menschheit Opfernden zu erkennen – zwischen Verkündigung, Geburt und Tod Jesu, also der ganzen großen Erzählung der Bibel, liegt bei Grünewald nur ein Stück flatternder weißer Stoff.
In diese Löcher der Stoffe auf dem Textil der Leinwand taucht man ein und erkennt, wie die schwebenden, flatternden, geknoteten und getränkten Stoffe im Grunde eine ganz eigene, bis heute völlig übersehene Geschichte erzählen. Andrea Mantegna ist der frühe italienische Revolutionär der Malerei auf Tuch, also Leinwand. Und in seiner umwerfenden „Beweinung Christi“ macht er das leichte weiße Leinentuch, das den Unterkörper und die Beine Jesu bedeckt, zum Bildmittelpunkt. Berühmt ist das Bild für die markante Verkürzung des Körpers, weil man als Betrachtender von den Füßen hinauf zum Kopf blickt, „Christus in Verkürzung“ hieß das Bild deshalb auch in seinem Nachlassverzeichnis. Das Tuch liegt quer zu unserem Blick. Es wirkt auf aufregende Weise belebt, der Stoff scheint schon von der nahenden Auferstehung des Aufgebahrten zu wissen. Ja, die Leinwand Mantegnas scheint im doppelten Sinne durchpulst, von der Energie des Malers und der des bald Wiedererweckten.
Die Geschichte der Stofflichkeit der Kunst ist aber auch eine, die sich irgendwann ganz von der Kunst in Öl auf Leinwand löst. Der Stoff an sich wird zum Erzähler. Der legendäre „Filzanzug“ von Joseph Beuys etwa hängt flach an der Wand und auf dem Kleiderbügel, ganz offensichtlich eine Stellvertreterhülle, doch sie füllt sich sofort mit den Bildern unserer Erinnerung und Fantasie. Und die über einem Heizkörper herabhängenden Socken auf einer Fotografie von Wolfgang Tillmans verwandeln sich für Menschen mit einem kunsthistorisch geschulten Bildspeicher zum Sarkophag Christi, auf dem lediglich die Tücher zurückgeblieben sind. Tillmans hat eine ganze Bildserie aus dieser Abwesenheit der Körper seiner Freunde geschaffen, von denen nur noch die ausgezogenen, ausgebeulten Kleidungsstücke berichten. Die Hüllen erzählen von den Leibern, und unsere Fantasie fängt an, ihre eigenen Geschichten dazu zu stricken.
Louise Bourgeois, die Tochter einer Restauratorin historischer Tapisserien, sah sich selbst in deren Nachfolge den berühmten Faden der Ariadne weiterspinnen. Sie hat aus der Übereinstimmung der Worte für das Spinnen des Stoffes und für das Spinnentier ein eigenes künstlerisches Universum geschaffen. Und seit 1996, da war sie Mitte Achtzig, schuf sie die sogenannten „Pole Pieces“: Dabei hängen an Ständern, die wie abgestorbene Bäume oder Gerippe wirken, alte Nachthemden und Negligés ihrer Mutter – vergilbt, mitgenommen, Trugbilder aus einer anderen Zeit. Als Kleiderbügel fungieren anders als bei Joseph Beuys keine Industrieanfertigungen, sondern riesige Rinderknochen. Auf brutale Weise wird so das Schwerelose, Lockende der Unterwäsche in die raue Wirklichkeit gehängt, Mobiles, die vom fragilen Konstrukt von Weiblichkeit, Mutterschaft und vom Leben überhaupt erzählen. Eine Familiengeschichte in Textilien, vor allem wenn man weiß, wie sehr die Mutter von Bourgeois darunter litt, dass der Vater seine Geliebte als Gouvernante in den ehelichen Haushalt eingeschleust hatte.
Es ist frappierend und augenöffnend, wie wir dank Stefan Trinks einen neuen roten Faden in der Geschichte der Kunst der vergangenen tausend Jahre erkennen dürfen. Und in den Arbeiten von Beuys, Tillmans, Pae White oder Louise Bourgeois, die so unauflöslich mit den großen Fragen unserer Gegenwart verwebt sind, sehen wir, dass der Stoff auch für die nächsten tausend Jahre reichen wird. In die Tücher der Kunst ist die Magie hineingewoben, in ihr Schweben auf ewig unsere Fantasie.
„Glaubensstoffe und Geschichtsgewebe. Belebte Tücher in der mittelalterlichen und modernen Kunst“
von Stefan Trinks, Schirmer/Mosel, 232 Seiten