Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In Folge 9 geht es um Duchamp als Figur des Empowerment und Erbe afrikanischer Tradition
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31.01.2025
Als weißer, christlich erzogener Sohn eines Notars wuchs Duchamp mit zahlreichen Vorzügen auf. Und als mitteleuropäischer wie heterosexueller Cis-Mann vereint er zudem viele Eigenschaften in sich, deren Privilegien heute im kulturellen Kontext oft kritisch hinterfragt werden. Geht es doch seit vielen Jahren fernab des Furors von Cancel Culture zurecht darum, zahlreichen Künstlerinnen und Diskursen endlich jene Auseinandersetzung, Beachtung und Sichtbarkeit zukommen zu lassen, die über Jahrhunderte ein männlich geprägter, eurozentristischer Kanon beinahe exklusiv auf sich vereinen durfte. Umso erstaunlicher ist es, welche Wertschätzung Duchamp etwa von zeitgenössischen afro-amerikanischen, afrikanischen oder indischen Künstlern und Künstlerinnen erfährt. Ebenso wie von jenen aus dem Mittleren Osten, von Hassan Sharif über Ebtisam Abdul Aziz bis zu Abdel Nasser Gharem.
Während wir in einer vorherigen Kolumne seinem großen Einfluss auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in Asien nachspürten, fangen wir heute im Louvre Abu Dhabi an. Seit dessen Eröffnung 2017 wird dort eine Replik von Duchamps Readymade „Flaschentrockner“ (1914/1964) gemeinsam mit einer zentralafrikanischen Nkisi Figur des frühen 20. Jahrhunderts gezeigt. Die Texttafel zu den etwa gleichhohen Skulpturen erklärt, Duchamps künstlerische Tätigkeit sei der eines Schamanen vergleichbar, Fetischobjekt und Readymade seien beide kein „Produkt rein ästhetischer Reflexion“ mehr. Der französisch-senegalesische Künstler Alexandre Diop bringt einen ähnlichen Gedanken für die zeitgenössische Konzeptkunst auf den Punkt, wie er 2022 in einem Interview mit The Art Newspaper ausführte: „Der afrikanische Blick sieht Dinge in einem Objekt: etwas Spirituelles, ein Elternteil, einen Gott. Ebenso wie Duchamp einen Brunnen (englisch: Fountain) in einem Urinal sieht. Ich bin von dieser afrikanischen Art der Wiederverwendung von Materialien und von Duchamps Art, mit dem zu spielen, was bereits existiert, geprägt.“ Kunsthistoriker wie Osuanyi Quaicoo Essel, Thomas Folland oder Ebenezer Kwabena Acquah gehen in ihren Beiträgen aus den letzten Jahren noch einen Schritt weiter. Unter dem Begriff „Readymade Primitivism“ wird auf die Korrelation zwischen westlicher Konzeptkunst, die seit den frühen Avantgarden mit tradierter Könnerschaft sowie etabliertem Geschmack bricht, und der gleichzeitigen Auseinandersetzung dieser Kunstbewegungen mit afrikanischer Kunst verwiesen, die letztlich den Ursprung dieser Zäsur markiert. Deren Verwendung von Fundstücken, von Abstraktion, von ausrangierten Gegenständen sowie deren Wirken heraus aus dem Korsett reinen Kunstwollens und hinein in die alltäglich erlebte Erfahrung, in entmaterialisierte Praxis: dies alles habe die westliche Moderne überhaupt erst ermöglicht.
So sieht das auch der afro-amerikanische Künstler Arthur Jafa, Gewinner des Goldenen Löwen der Venedig Biennale 2019. Inmitten der schnellen Abfolge von Bildern und Clips seiner achtminütigen, vielfach preisgekrönten Videoarbeit „Apex“ (2013), die sich hauptsächlich auf die Ästhetik der Black Culture beziehen, taucht zwischen zwei Jump Cuts plötzlich Duchamps Urinal „Fountain“ (1917) auf. Warum? Laut Jafa, so vertraute er Dominikus Müller in einem Interview an, ging es Duchamp darum, jene Energie und Kraft zu replizieren, die von schwarzen Artefakten ausginge. Einerseits fungiere „Fountain“ damit gleich einem „in einen weißen Ausstellungsraum verschobenen schwarzer Körper“, andererseits geht es Duchamp um Transformation. Wie entsteht etwas völlig Neues aus bereits Bestehendem, wie lädt man Gegenstände mit Bedeutung auf? Jafa sieht hier die gleiche Denkweise wie in der Black Culture: „Wir nehmen Timberlands und tragen sie drei Nummern zu groß. Wir ziehen Dinge verkehrt herum an. Wir haben das Saxofon erschaffen, ohne es zu erfinden. Genau wie Basketball oder Football. Alles, was wir in die Hände bekommen – wir verwandeln es.“
Duchamps Readymades nehmen hierbei eine Scharnierfunktion ein, sie weisen von einem Raum in einen anderen. Der in Berlin lebende, südafrikanische Künstler Robin Rhode ließ mich vor Jahren wissen: „Das ‚Prinzip Duchamp‘ ist ein destillierter Umgang mit Material und Formen, das Kunstwerk ist ein Zustand reiner Essenz. Ich bin in einem Land aufgewachsen, das von Politik und sozialer Identität dominiert wird, und meine Liebe zu Duchamps Ansatz war eine erfrischende Abkehr von der eher barocken afrikanischen Ästhetik.“ Schon vor über 30 Jahren sah der türkische Künstler Bedri Baykam die Krise einer von sich selbst gelangweilten westlichen Kunstwelt vornehmlich darin, dass sie seit Duchamp nur noch Pastiche produziere. Dessen stets zunehmende Bedeutung sei gleichwohl wie ein Tropfen Wasser in der Wüste, gerade zu einem Zeitpunkt, an dem sich der kreativ bankrotte Westen mit seinem Interesse an „multikultureller Kunst“ geriere, als tue er dem Süden und dem Osten damit auch noch einen Gefallen. Eben weil Duchamp das westliche Kunstverständnis von innen zerschmetterte, bleiben laut Baykam allein seine Readymades Leitbild und Referenz für eine Revolte von außen. Es passt in eben diesen Kontext, dass der britische Guardian das Enfant terrible der indischen Kunstszene, Subodh Gupta, einst als „subkontinentalen Marcel Duchamp“ bezeichnete.
Auch der viel zu früh verstorbene afro-amerikanische Louis Vuitton Designsuperstar und Off White Gründer Virgil Abloh berief sich stets auf Duchamp – nicht zuletzt, als er 2017 ein Hoodie mit dem über der Brust prangenden Schriftzug „R. Mutt 1917“ als Hommage zum hundertsten Geburtstag von „Fountain“ schuf. Seine rückseitige Erklärung zur Bedeutung des Readymade endet mit dem Satz: „Zu umreißen, wie es den Weg vom Müllhaufen ganz nach oben auf den Kunststapel fand, ist für das Verständnis zeitgenössischer Kunst wesentlich“. Streetwear als Readymade, Mode als „Copy and Paste“, Zitate als metaironische Brechung. „Duchamp ist mein Anwalt“ erklärte der Modedesigner, obschon dieser ihn nicht vor Plagiatsvorwürfen schützten konnte. Virgil Abloh war ein Genie in Reinform aber das Recht auf Aneignung formulieren heute vor allem jene, die davon kommerziell profitieren, das Berufen auf Duchamp als Pate der Appropriation Art funktioniert indes nur, solange es keine Kläger gibt.
Hier geht es zu Folge 8 von „Per Du mit Duchamp“.