Seit der Antike verlaufen sich die Menschen lustvoll in künstlich angelegten Labyrinthen. Als Architekturen bieten sie Abenteuer mit ungewissem Ausgang und ähneln so dem Leben
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08.01.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 235
In der Verfilmung von Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ ist die Bibliothek, in der William von Baskerville alias Sean Connery nach dem Mörder von Bruder Adelmo fahndet, wie ein Labyrinth angelegt, als Schutz gegen unerwünschte Eindringlinge. Das französische Denkmalschutz-Label „Monument historique“, eine topseriöse Bewertungskategorie in Sachen Erhaltung von Kulturgütern, trägt das Labyrinth aus der Kathedrale von Reims als Logo: Eine späte Rache an den örtlichen Kanonikern, die es 1779 in einem Anfall von Vandalismus zerstörten. Seitdem gibt es nur Abbildungen davon. Und dann und wann wirft eine Lichtinstallation es auf den Boden der Kathedrale.
Der Italiener Franco Maria Ricci, Abkömmling einer alten Genueser Adelsfamilie, verbrachte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens damit, in Fontanellato bei Parma ein Labyrinth zu planen, mit einer Pyramide in der Mitte, in der er seine Kunstsammlung zeigen wollte. Das „Labirinto della Masone“ besteht aus schnell wachsendem Bambus, und wer sich verlaufen hat, ruft die auf der Eintrittskarte angegebene Nummer an, um sich „retten“ zu lassen. Bis zu seinem Tod im Jahr 2020 war Ricci überzeugt, in Fontanellato das größte Labyrinth der Welt geschaffen zu haben. Aber er hatte wahrscheinlich vorher nicht mit den Leuten in Cornwall gesprochen, die sagen nämlich dasselbe über Kerdroya.
Es gibt überall Labyrinthe, auf einer Farm in Namibia ebenso wie in Patagonien drei Kilometer südwestlich der Ortschaft El Hoyo in der argentinischen Provinz Chubut, in der Nähe der chilenischen Grenze. Womit wir wieder bei den Dimensionen wären: Das „Laberinto Patagonia“ gilt als das größte Labyrinth Südamerikas. Keine Labyrinthe im engeren Sinn, aber doch als Irrgärten angelegt, sind die begehbaren Installationen des niederländischen Künstlers Krijn de Koning. Sie sind verwinkelt, haben Türen und Durchgänge, die ins Nichts führen. Sie erinnern an Kulissen, komplizierte Bühnenbilder, abstrakte Plastiken oder Architekturfantasien – aber sie besitzen auch eine heitere Seite, dank der kräftigen Farben, die de Koning dafür verwendet.
Labyrinthisch ist auch „La Scarzuola“, eine Folly des italienischen Architekten und Designers Tomaso Buzzi im Dorf Montegiove in Umbrien. Wie Franco Maria Ricci stammte Buzzi aus einer wohlhabenden Familie und leistete sich mit La Scarzuola eine Verrücktheit en miniature. In ihrem Auf und Ab von Treppen, den antikisierenden Tempeln, künstlichen Ruinen und versteckten Nischen und Ecken verschafft einem Buzzis Idealstadt eine Vorstellung davon, wie es wäre, für immer in einer Zeichnung des niederländischen Künstlers und Grafikers M. C. Escher gefangen zu sein. Es heißt, Buzzi sei zu dem Ensemble aus sieben Gebäuden durch den Roman „Hypnerotomachia Poliphili“ angeregt worden. Das Werk des Schriftstellers Francesco Colonna erschien 1499 und zählt zu den großen Mysterien der Literaturgeschichte. Buzzi starb vor 43 Jahren, doch La Scarzuola ist weit davon entfernt, fertig zu sein. Im Moment baut Buzzis Neffe Marco Solari daran weiter, aber der ist auch schon fünfundsiebzig.
Wahrscheinlich muss man so gebildet und so mit Geld und Fantasie ausgestattet sein wie Buzzi, Solari oder Ricci, um in einem Labyrinth nicht nur eine Lebensaufgabe, sondern ein Abbild des Selbst zu erkennen. Denn allzu leicht kann die Idee auch in ihr Gegenteil umschlagen. Dann ist ein Labyrinth ein Albtraum. Darin verloren zu gehen, die eigene Ohnmacht zu spüren, rührt an existenzielle Urängste. Wie das wohl mit dem Umstand zusammengeht, dass man früher Labyrinthe in Form von Spiegelkabinetten auf jedem Jahrmarkt finden konnte?
In seinem 1922 in London erschienenen Buch „Mazes and Labyrinths. A General Account of Their History and Developments“ berichtet William Henry Matthews von einem Monsieur Bonnin aus Evreux, der Mitte des 19. Jahrhunderts angeblich im Besitz von mehr als 200 Darstellungen von Labyrinthen gewesen war. Matthews war selbst so begeistert von der Idee eines Irrgartens, dass er, wie er schreibt, einen solchen konstruierte – und zwar am 25. Mai 1921 als Belustigung auf einem Gartenfest in Eastcote in Middlesex. Am Eingang war ein Gedicht zu lesen, das vor dem „furchtbaren Minotaurus“ warnte und empfahl: „Renn um dein Leben!“ In der Mitte des Labyrinths, schrieb Matthews, stand ein Stuhl und davor ein geschmückter Spiegel. Man hatte einen kleinen Obolus zu entrichten, die Einnahmen kamen der Kirchengemeinde von Eastcote zugute.
Ebenfalls im Dunklen liegt die etymologische Herleitung des Wortes Labyrinth. Die einen behaupten, der Begriff stamme vom Namenszusatz Labaris ab, den der ägyptische Pharao Amenemhet III. in Anspruch nahm. Eine andere Theorie führt den Ausdruck Labyrinth auf Labrys und die einen Ort bezeichnende Endung inthos zurück. Labrys bedeutet „Doppelaxt“ – und Doppeläxte waren im Palast von Knossos auf Kreta omnipräsent. (Der Palast wurde auch „Haus der Doppeläxte“ genannt.) Der bereits zitierte Karl Kerényi hielt das Wort Labyrinth ursprüngliche für ein Synonym eines Steinbruchs mit vielen Gängen, er zog dazu eine Steintafel zurate, die mit der vom 15. bis zum 12. Jahrhundert vor Christus auf Kreta und dem griechischen Festland gebräuchlichen Silbenschrift Linear B beschrieben war. Aber wirklich weiterhelfen kann das natürlich auch nicht. So ist das Labyrinth, was es ist, da haben die Menschen aus Chartres schon recht: Es ist wie das Leben selbst in jeder Hinsicht ein Rätsel.