Was mich berührt

Sanfter Giotto

Bei der Arbeit an seinem neuen Buch fuhr unser Autor Daniel Schreiber nach Padua, um sich Giottos berühmte Fresken in der Scrovegni-Kapelle anzuschauen. Dabei machte er eine außergewöhnliche Erfahrung. Folge 13: der Trost der Schönheit

Von Daniel Schreiber
24.11.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 221

Die Geschichte, die sie erzählen, nimmt auf dem großen Triumphbogen über dem Altarraum der Kapelle ihren Anfang, wo Gott dem Erzengel Gabriel den Auftrag erteilt, Maria die Botschaft ihrer Schwangerschaft zu überbringen. Gott hat die gleichen Gesichtszüge wie sein Sohn, dessen Geburt und Tod die Menschheit erlösen soll und der ihm auf der anderen Seite der Kapelle, über das Jüngste Gericht wachend, gegenübersitzt. Dann folgt, erzählerisch gesehen, eine gekonnte Rückblende, die erklärt, wer diese Maria eigentlich ist. Im oberen Register der Südwand kann man in verschiedenen Vignetten sehen, wie Joachim, der Vater Marias, aufgrund seiner Kinderlosigkeit aus dem Tempel verjagt wird, bei den Hirten ein Opfer darbringt und nach der Traumerscheinung eines fliegenden Engels nach Jerusalem, zu Anna, seiner Ehefrau, zurückkehrt, die nun tatsächlich ein Kind erwartet. Sie empfängt ihn vor dem Goldenen Stadttor. Als sie sich sehen, küssen sie sich.

Dieser Kuss, der als der erste der Kunstgeschichte gilt, ist eine überaus berührende Szene. In Annas zärtlicher Geste, mit der sie dem zurückgekehrten Joachim über den Bart streicht und ihm ins Haar greift, wird die Nähe der beiden deutlich, die Freude über ihr spätes Glück. Das obere Register der Nordwand führt diese Geschichte weiter. Sie stellt Marias Geburt dar, ihre Aufnahme in den Tempel und das Auswahlverfahren, durch das sie Josef anvertraut wird, den sie schließlich heiratet. Wieder am Triumphbogen angekommen, sieht man, wie der Erzengel Gabriel ihr nun tatsächlich die Botschaft ihrer Empfängnis verkündet.

Giotto Padua Flucht nach Ägypten
Giottos „Flucht nach Ägypten“ erzählt die bekannte Geschichte des Neuen Testaments. © Scala, Florence

Ich weiß nicht mehr, warum ich schon früh damit begann, Kirchen zu besuchen, wenn ich auf Reisen bin. Ich buche, wenn nötig, im Voraus, betätige altmodische Lichtschalter, um die im Dunkel von Seitenschiffen versteckten Gemälde anzuschauen, setze mich in hölzerne Stuhlreihen, lege den Kopf nach hinten und schaue mir die Deckenfresken an. Ich rede nur mit wenigen Menschen darüber, vielleicht weil es zu missverständlich ist. Es ist fast so, als würde ich es heimlich tun. Ich habe nie zu den Menschen gehört, die mit bildungsbürgerlicher Expertise über sakrale Kunst und Architektur sprechen können. Ich wurde auch nie getauft, bin nicht religiös erzogen worden und habe eher den kritischen Blick meiner Eltern auf die Institution der Kirche und das von ihr verursachte Leid angenommen. Dennoch bestaunte ich sprachlos Michelangelos Sixtinische Kapelle oder Raffaels „Schule von Athen“ und versuche mir immer, wenn ich in Venedig bin, zumindest einige der Tizians, Tintorettos und Tiepolos in den unzähligen Kirchen der Stadt anzuschauen. Eine meiner eindrücklichsten Kunsterfahrungen spielte sich im Speisesaal der mailändischen Santa Maria delle Grazie ab, als ich mir für fünfzehn Minuten die verblassende Schönheit von Leonardos „Abendmahl«“ ansehen durfte und mich zu meiner eigenen Überraschung große Rührung überkam. Ich konnte nicht sagen, warum.

Die Erfahrung in der Giotto-Kapelle gleicht jener vor Leonardos „Abendmahl“. Vielleicht übertrifft sie sie sogar. Ein Schweigen hat sich über den Kirchenraum gelegt. Ich blicke auf die anderen Besuchenden, die meisten von ihnen sind ähnlich ergriffen wie ich. Nach und nach schaue ich mir die Bilder des Freskenzyklus an, der Szenen aus dem Leben von Maria und der Passion von Jesus, aber auch das Jüngste Gericht und einige Grisaille-Allegorien von Sünden und Tugenden zeigt. Täuschend echt aussehender gemalter Marmor wechselt sich mit architektonischen Trompe-l’Œil- Elementen ab, deren Illusion, für das Mittelalter höchst ungewöhnlich, nahtlos in die reale Architektur übergeht. Es wirkt schlicht unvorstellbar, dass dieses Kunstwerk so früh entstanden ist. Seine realistische Ästhetik, die psychologische Akkuratesse seiner Figurenzeichnung, sein comichafter Erzählbogen – alles wirkt unglaublich modern für das Mittelalter. Mühelos scheinen die Fresken auch mit den heutigen Betrachtenden zu kommunizieren.

Giotto Padua Abendmahl
Die Bilder des Freskenzyklus zeigen Szenen aus dem Leben von Maria und der Passion von Jesus. Hier zu sehen: Giottos „Das Abendmahl“. © Scala, Florence

Die Erzählung der beiden anderen Register beginnt an der Südwand mit der Geburt von Jesus, umgeben von sehr lustig dreinschauenden Schafen, einem Ochsen und einem Esel. Mit großer Innigkeit schaut Maria ihrem ernsten Sohn in die Augen, ein Motiv, das sich viele Bilder später, nach seinem Tod, wiederholen wird. Nach und nach erzählen die Fresken nun die bekannte Geschichte des Neuen Testaments: Sie zeigen den Besuch der Heiligen Drei Könige unter dem Stern von Bethlehem, den Giotto als den Halleyschen Kometen malt, den er im Jahr 1301 beobachtet hatte. Und die Flucht der kleinen Familie nach Ägypten, während in Bethlehem alle männlichen Kleinkinder ermordet werden, um das Kommen des Messias, des neuen Königs der Juden, zu verhindern. Die Geschichte wird von den Vignetten auf der Nordwand wieder aufgenommen und spannt sich von der Taufe Jesu über die Hochzeit zu Kana, bei der er Wasser in Wein verwandelt und weitere Jünger rekrutiert, die Auferweckung von Lazarus und den Einzug in Jerusalem bis zur Passion selbst, dem Verrat durch Judas für ein Säckchen voller Münzen, dem letzten Abendmahl, den Aufstieg nach Golgatha, die Kreuzigung und Wiederauferstehung.

Ich gehe Giottos Freskenzyklus mehrmals ab, kann nicht alle Bildrätsel entschlüsseln. Doch sie ziehen mich unmerklich in den Bann. Die Reinheit der Farben verleiht den dargestellten Szenen die Strahlkraft von Kirchenfenstern oder von Bildern mittelalterlicher Manuskripte. Der ästhetischen Theorie jener Zeit gemäß transzendieren reine Farben das Materielle und lassen das Göttliche in die Welt. Ich glaube zu verstehen, warum man das dachte. Ich habe dasselbe Gefühl, wenn ich in einem Roman versinke. Als wäre ich durch ein Portal in eine Welt getreten, die anderen Gesetzen folgt.

Giotto, habe ich den Eindruck, gelingt etwas, das eigentlich so gut wie unmöglich ist. Er nimmt sich die am häufigsten gemalte und erzählte Geschichte der Welt und dringt zu ihrem menschlichen Kern vor. Er entledigt sich liturgischer Verbrämungen, religiöser Überschreibungen und jener Erotisierung von Leid und Gewalt, die der christlichen Ikonografie häufig zu eigen ist. Stattdessen erzählt er eine berührende Geschichte von Liebe und spätem Glück, von Flucht und Vertreibung, vom Rausch der Jugend, von Trauer und Tod. Auf eine Weise, die einem die Schönheit dieses menschlichen Lebens mit all seinen Momenten des Glücks, aber auch seinen Rückschlägen und Traumata bewusst macht. Hinter diesem Gesamtkunstwerk, das im Spiel der Epochen von Byzantinismus, Mittelalter und Renaissance einen wohl einzigartigen Platz einnimmt, verbirgt sich ein ureigener Blick auf die Welt, ein außerordentlich schöner Blick. Ein Blick, dem ich gerade mehr abgewinnen kann als jemals zuvor und der mir einen Moment lang allen erdrückenden Realitäten zum Trotz eine stille Form der Zuversicht vermittelt. Dankbarkeit überkommt mich.

Das europäische Mittelalter gilt gemeinhin als eine der dunkelsten Perioden der Menschheitsgeschichte, und in vieler Hinsicht war es das auch. Zwischen immerwährenden Kriegen und Pandemien unvorstellbaren Ausmaßes muss es wenig Sinn für das Licht der Welt gegeben haben. Doch vielleicht haben wir nur die Sicht der Renaissance auf das zurückliegende Zeitalter übernommen, die es kurzerhand für barbarisch erklärte und mit dem ästhetischen Ideal der Antike kontrastierte. Das Mittelalter selbst fühlte sich der Antike nicht unterlegen, vor allem in seiner Geistigkeit nicht, in seiner Eleganz. Seine Synthese aus philosophischem und theologischem Denken zielte auf innere Reinigung ab, auf eine spirituelle Erfahrung von Hoffnung und Gnade. Auch die Kunst sollte in den Diensten dieser Erfahrung stehen. Erfüllt von der Atmosphäre des ersten Jubeljahrs und dessen Vision einer universellen Wiedergeburt nahm Giotto diesen Auftrag an. Hinter der gängigen christlichen Ikonografie entdeckte er tiefe Menschlichkeit, große Liebe und zarte Zuversicht und machte diese fast schon körperlich erfahrbar. Bis heute ermöglicht er uns etwas, das einer spirituellen Erfahrung gleichkommt.

Als wir dazu aufgefordert werden, die Kapelle zu verlassen, gehen einige der Besuchenden zügig zum Ausgang. Andere, mich selbst eingeschlossen, versuchen den Abschied von diesem Werk und seinem blauen Sternenhimmel so lange wie möglich hinauszuzögern. Ich habe den Eindruck, nur die Hälfte der Fresken gesehen zu haben. Ich habe noch nicht einmal das Jüngste Gericht eingehend betrachtet, das eine ganze Kirchenwand einnimmt und in dessen Hölle einige Bischöfe und sogar ein Papst schmoren. Auch die Grisaille-Allegorien, die so etwas wie das ethische Selbstbild Giottos vermitteln sollen, habe ich mir nur flüchtig angeschaut. Ganz zu schweigen von den Vierpässen, auf denen Szenen aus dem Alten Testament dargestellt werden, oder der Vielzahl beeindruckend dekorativer Elemente. Ich bin der Letzte, der die Kirche verlässt.

Nachdem ich mich eine Weile im Museumsshop umgeschaut habe, überlege ich mir, ob ich noch einen Spaziergang durch Padua mache, entscheide mich aber dagegen und verschiebe ihn auf den nächsten Besuch. Ich mache mich wieder auf den Weg zum Bahnhof, um nach Venedig zurückzufahren. Es ist kalt, der Himmel ist immer noch grau, in der Ferne kündigt sich die Abenddämmerung an. Die alten Gedanken finden mich wieder. Und mit ihnen die Trauer und das Verlorensein, das Gefühl, mehr verloren zu haben, als ich bewältigen kann. Ich versuche etwas von der sanften Zuversicht in mir zu finden, die ich während des Besuchs der Kapelle gespürt habe. Das wird mir erst sehr viel später gelingen. Aber ich bleibe mit einem Gefühl des Trosts zurück, des Trosts der Schönheit, wie es eine Freundin von mir nennt. Und einem Gefühl der Verbundenheit mit einem Menschen, der 7oo Jahre vor mir lebte, der all das ihn umgebende Leid, der all die Verluste seiner dunklen Epoche nahm und ihnen mit großer Geistigkeit und ebenso großer Menschlichkeit begegnete. Und dabei ein so wundersames Kunstwerk schuf, das man, wenn man es einmal gesehen hat, nie mehr vergisst.

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