Wim Wenders hat einen großen Film über den Künstler Anselm Kiefer gedreht. Wir sprachen mit dem Filmemacher über ihre lange Freundschaft, die Inbrunst beim Malen und die Kraft des Loslassens
ShareIch würde sagen: Ich bin Reisender. Diese Antwort habe ich schon ein paarmal gegeben. Es ist erstaunlich, wie viele Leute das glauben und das für einen ordentlichen Beruf halten. (lacht) Vielleicht würde ich dieser Person an der einsamen Bar auch sagen: Fotograf. Allein unterwegs bin ich vor allem auf meinen Fotoreisen, anders als wenn ich einen Film vorbereite. Ich würde wahrscheinlich spezifischer sagen: Ich bin Landschaftsfotograf. Nicht, dass die Person denkt, ich würde gleich ein Foto von ihr machen wollen. Ich mache ja keine Porträts, das ist nicht mein Ding.
Ausschließlich das Werk. Ich wollte auf keinen Fall ein Biopic machen. Von den biografischen Details waren mir nur die Orte wichtig, wo er gearbeitet hat, zum Beispiel die zwanzig Jahre, die er zuerst im Odenwald verbracht hat, die Hälfte davon als völlig unbekannter Maler. Ich habe selten eine so isolierte Gegend in Deutschland gesehen wie den Odenwald, eine geradezu mittelalterliche Gegend. Die Namen der Orte allein sind schon wie aus Grimms Märchen, eine ganz alte deutsche Kulturlandschaft. Diese Orte haben mir sehr viel bedeutet, weil ich dazu einen Zugang habe, als Landschaftsmaler, äh, ich meine als Fotograf … (lacht) Dass Anselm dort zehn Jahre lang praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemalt hat, war mir wichtig. Oder danach die Studios in Barjac in Südfrankreich, oder bei Paris, wo er heute noch arbeitet …
Unbedingt! (lacht) Auf jeden Fall wollte ich auf keinen Fall irgendwas Privates über ihn erzählen. Das habe ich auch bei „Pina“ vermieden und bei meinem Film über Sebastiao Salgado und über den Papst sowieso.
Bei Anselm hat mich interessiert: Wie arbeitet so jemand und wo? Und letzten Endes: Wo kommt das alles her, was er malt? Wenn jemand so überzeugt ist wie Anselm, dass es nichts gibt, was sich der Malerei entzieht, dass es kein Thema gibt, ob Astrologie oder Atomphysik oder Mythologie oder Geschichte, das man nicht malen kann, dann gibt es damit natürlich schon eine Verbindung zur Person. Als ich durch seine riesige Bibliothek gegangen bin und ein paar Bücher aufgeschlagen habe, habe ich gesehen, dass er die wirklich alle gelesen hat, er hat viel unterstrichen, überall liegen Zettel drin. Das sind überwältigend viele Bücher, und er hat sie alle durchgeackert. In dieser Hinsicht ist der Mensch Anselm Kiefer schon Teil des Films, aber ich wollte ihn nicht als ‚Person‘ ergründen.
Obwohl Sie sich schon lange kennen …
Ja, wir kennen uns schon über 30 Jahre lang.
Hier würde ich gern auf Ihren Versprecher mit dem Landschaftsmaler zurückkommen. Viele Aufnahmen des Films wirken sehr malerisch, ein Mann in Rückenansicht, der in eine Landschaft schaut, das ist ja auch das Plakat zum Film. Da denkt man an die Romantik, an Caspar David Friedrich, den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Haben sich bei Ihrem Film im Grunde zwei Maler getroffen?
Unsere gemeinsame Geschichte hat begonnen, als Anselm 1991 in Berlin in mein damaliges Stammlokal gekommen ist, ins Exil, wo ich jeden Abend gegessen habe, weil ich so ein Gewohnheitstier bin. Wenn ich einen Ort mag, dann gehe ich da immer wieder hin. Und dann kommt einer rein, der sich nicht auskennt und sich umguckt, weil er zum ersten Mal da ist. Er hat gefragt, ob er sich an meinen Tisch setzen darf und ob ich was empfehlen kann. Wir wussten, wer wir sind, aber wir hatten uns noch nicht persönlich getroffen. Er kannte auch Filme von mir, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Nach dem Essen hat er hat mir eine Zigarre angeboten. Wir haben uns sofort geduzt. Er sagte: Ich weiß ja, dass du eigentlich Maler werden wolltest. Weißt du eigentlich auch, dass ich immer gerne Filme gemacht hätte? Damals hatten wir zum ersten Mal die Idee, etwas zusammen zu machen. Er war dabei, seine große Ausstellung in der Nationalgalerie vorzubereiten, und wir haben uns fast jeden Abend gesehen. Doch danach haben wir uns aus den Augen verloren, weil ich nach Amerika bin und er nach Frankreich gezogen ist. Dennoch blieb die Idee, etwas zusammen zu machen, und wir haben immer mal wieder darüber gesprochen, wenn wir uns wiedergesehen haben. Aber es war nie so richtig ernst gemeint. Bis 2019.
Was mögen Sie an Anselm Kiefer?
Ich finde es faszinierend, dass jemand mit so einer Inbrunst malt. Wenn ich nachts aufwache, dann nehme ich ein Buch und lese was. Oder ich höre Musik. Aber wenn Anselm Kiefer nachts um 3 Uhr aufwacht, geht er in sein Studio und malt vier Stunden lang. Bei Anselm ist die Arbeit das Leben selbst. Ich kann natürlich auch sagen, dass meine Filme mein Leben sind. Aber bei ihm ist das noch mal eine ganz andere Dimension, noch intensiver. Anselm wusste schon als kleiner Junge, dass er gut malen kann. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er Maler wird. Er hat dann zwar erst Jura studiert, weil er das wohl irgendwie praktisch fand. Das hat mich gewundert, wo er doch wusste, dass er Maler werden würde. Ich wundere mich auch über mich selbst, dass ich Medizin studiert habe …
Dass Sie Medizin studiert haben, würde man bei Ihnen auch nicht unbedingt vermuten.
Es war nur naheliegend, weil mein Vater Arzt war. Jedenfalls haben Anselm und ich tatsächlich im selben Jahr in Freiburg studiert. Wir hätten uns dort schon treffen können, ich habe dort auch Kurse in Kunstgeschichte belegt, den Namen meines Professors kannte Anselm noch.
Anselm Kiefer ist in Deutschland über viele Jahre eher kritisch rezipiert worden, gemessen an dem Rang, den er heute international einnimmt. Eine Kritik ist, dass bei ihm alles oft zu schwer, zu gewichtig wirkt. Finden Sie, dass es auch Leichtigkeit oder Humor in seinem Werk gibt?
Der Mann selbst hat einen großen Sinn für Humor. Wir haben gemeinsam viel gelacht. Als er den Film zum ersten Mal gesehen hat, hat er erst einmal lange geschwiegen. Er wollte ihn erst sehen, wenn er fertig ist und mir nicht reinreden. Dann hat er gesagt, und das hat mir gut gefallen: „Das ist ja ein super Film für alle Leute, die meine Arbeit lieben. Und es ist ein super Film für alle, die mich ohnehin verreißen. Du hast beiden Futter gegeben.“ Seine Rezeptionsgeschichte über die Jahre ist auch eine voller Missverständnisse. Es war aber nicht meine Aufgabe, das mit meinem Film zu lösen, dachte ich. Ich wollte ja vor allem Zuschauer, die ihn noch nicht so kennen, in seine Welt hineinführen. Und ich wollte keine Meinung über ihn verbreiten, sondern sein Werk erfahrbar machen. Es kann ja nicht jeder nach Barjac reisen, nicht jeder kommt in sein Atelier nach Croissy und in den Palazzo Ducale in Venedig.
In der ersten Szene des Films ist Anselm Kiefer zunächst nur als Schatten zu sehen. Man sieht Skulpturen von Kleidern ohne Kopf und aus dem Off kommt flüsternd ein Hinweis auf die Frauen der Antike, die vergessen wurden. Und vorher ist ein vertontes Gedicht von Ingeborg Bachmann zu hören, „An die Sonne“, das endet mit den Worten: „Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen“. Ist das ein Gleichnis? Ist das gleich zu Beginn eine Todesmetapher?
Zu Beginn hört man nur den schönen Lobpreis der Sonne, was eines der optimistischsten Gedichte von Ingeborg Bachmann ist, von einer Lebensfreude, die mir gut gefallen hat. Was Sie zitieren, hört man erst am Ende des Films. Mir war wichtig, dass der Film in der Natur anfängt und dass es da ‚Zeugen‘ gibt. Anselm hat diesen Frauenfiguren in Barjac in Südfrankreich einen ganzen Saal gewidmet, und viele von ihnen stehen auch draußen im Wald. Mir hat gefallen, dass er diesen großen Figuren der Antike eine Bühne gegeben hat, all diesen Frauen, die wir heute fast nur über die Zeugnisse ihrer männlichen Kollegen kennen. Außer ein wenig von Sappho ist ja nichts überliefert. Mir haben diese Frauen jedenfalls schwer imponiert, als ich sie bei meinem ersten Besuch in Barjac entdeckt habe.
Sie haben sie in Szene gesetzt mit Ihrem Film.
In der Tat. Wenn die Sonne über die Berge kriecht, sind diese ersten Strahlen ein paar Millionen Kilometer gereist. Und mit dem Sonnenlicht erwachen auch diese Frauenfiguren. So wird man gleich eingebettet in die Mythologie, die Anselms Werke durchflutet. Und ich wollte, dass diese Frauen jeweils eine Stimme hätten; sie sind meine Erzählerinnen geworden. Deshalb habe ich sie flüstern lassen, in allen möglichen Sprachen, nicht nur lateinisch und griechisch. Hin und wieder versteht man etwas in deutsch, französisch, englisch, italienisch oder hebräisch. Wir haben lange an diesem ‚Chor‘ gearbeitet. Außerdem mochte ich dieses sonnendurchflutete Glashaus sehr, in dem viele von ihnen stehen, und wir haben die Frauen da sozusagen in einen Reigen, in einen Tanz kommen lassen. Ja, in dem Gedicht von Ingeborg Bachmann kann man auch eine Todessehnsucht entdecken. Aber die Zeile, die Sie zitieren, über den unabwendbaren Verlust der Augen, die haben wir nicht vertont. Stattdessen hört der Film mit einer früheren Zeile auf: „Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier…”
In dem Film spielen zwei Nachkommen von Ihnen beiden mit. Ihr Großneffe und Anselm Kiefers Sohn. Ist das auch ein Familienfilm?
(lacht) Erstaunlicherweise hat es etwas von einem Familienfilm. Das war nicht geplant, ich hatte ja kein durchgeschriebenes Konzept. Als die Idee kam, Anselms Zeit im Odenwald im Film zu erzählen, habe ich Daniel, Anselms Sohn, interviewt, aber nur um zu erfahren: Wie war das, als du klein warst? Er hat erzählt, dass er oft dabei war und hinten auf dem Fahrrad saß, wenn der Vater umhergezogen ist, um zu fotografieren. Anselm hat viel fotografiert, er hat fast mehr fotografiert als gemalt, als Vorlage für seine Bilder, die nach wie vor meist auf Fotografien basieren. Und weil Daniel seinem Vater ähnlich sieht, habe ich dann kein großes Casting veranstaltet, sondern die Szenen dann lieber gleich mit ihm gedreht…
Und Ihr Großneffe spielt Anselm Kiefer als Kind.
Anselm Kiefer hat noch alle seine Kinderzeichnungen, sein Vater hat die allesamt aufbewahrt. Er hat kein Papier, auf den der Sohn je was gekritzelt hat, weggeschmissen, sondern immer die Jahreszahl drauf notiert. Der Vater war Kunsterzieher, und er hat seinen Sohn wohl auch ein bisschen in diese Richtung geschubst. Als ich auch Anselms Kindheit in den Film mit einbeziehen wollte, habe ich erst nach einem Jungen mit badischem Akzent gesucht, aber rund um Rastatt keinen gefunden, der diese Geistesgegenwart, diese Lebendigkeit, die ich mir für den jungen Anselm gewünscht hätte, mitgebracht hätte. Und dann habe ich auf einer Familienfeier meinen 8-jährigen Großneffen Anton erlebt und wieder gesehen, was der für ein aufgeweckter Kerl war, genauso, wie ich mir Anselm vorgestellt habe, ein Junge, der vor nichts Angst hat und einem die ganze Welt erklären kann. Während des Drehs kam dann ein Tag, an dem Anton und Anselm Kiefer sich tatsächlich begegnet sind, in der Schlussszene des Films am Rhein. Mir war wichtig, dass der Rhein vorkommt. Ich habe als Kind am selben Fluss gestanden wie Anselm, nur 800 Kilometer weiter nördlich, in Düsseldorf. Damals nach dem Krieg, als alle Brücken zerstört waren, und Frankreich am anderen Ufer für Anselm genauso unendlich weit weg war wie die andere Rheinseite für mich.
Anselm Kiefer und Sie sind beide im letzten Kriegsjahr geboren, 1945.
Genau. Und dann kam jedenfalls dieser Moment, an dem Anton und Anselm sich begegnet sind und sich groß angeguckt haben. Anselm hat Anton dann auf die Schultern genommen und zusammen standen die beiden da am Rhein und guckten. Die waren auf einmal ein Herz und eine Seele. Das wurde die letzte Einstellung des Films. Anschließend sind wir noch in die Stadt gefahren, zu Kaffee und Kuchen, da waren die beiden unzertrennlich. Das hat mir das Gefühl gegeben, dass dieser Ausflug in die Kindheit völlig berechtigt war. Es ist der ‚privateste Moment‘ im ganzen Film, als Anselm seine eigene Kindheit sozusagen auf den Schultern trägt.
Sie restaurieren und digitalisieren mit Ihrer Stiftung seit einigen Jahren all Ihre alten Filme. Ist das eher ein Akt der Kontrolle oder des Loslassens?
Es geht vor allem ums Loslassen, nämlich um die Idee, dass diese Filme mir mal ‚gehört haben‘. Jetzt gehören sie sich selbst, sind von mir oder überhaupt von irgendwelchen Personen unabhängig und keiner ‚Kontrolle‘ mehr unterworfen. Die Filme waren ja mal alle weg, und ich hatte keine Rechte mehr daran. Das war eine schwere Zeit, wo ich dann doch gemerkt habe, wie ich an ihnen hänge, ein bisschen so, wie man vielleicht an Kindern hängt. Doch dann habe ich gemerkt, dass es nicht gut ist, wenn ich mich da weiter als eine Art Erziehungsberechtigten sehe. Eigentlich wäre die ideale Existenzform eines Films, dass es niemanden gäbe, der damit Geld verdient, außer sie selbst. Und so ist meiner Frau und mir die Idee mit der Stiftung gekommen. So könnten die Filme tatsächlich der Allgemeinheit gehören, für die sie ja gemacht sind. Filme, selbst die schönen restaurierten 4K-Digitalkopien, die wir jetzt haben, gibt es nur in dem Moment, wo jemand da sitzt, sie sieht und sie schätzt. Erst in dem Moment, wenn er rezipiert wird, gibt es einen Film. Die Stiftung war die beste Idee meines Lebens. Inzwischen sind über 20 der Filme aufwendig restauriert und digitalisiert.
Und wie fühlt sich das für Sie an, wenn Sie Ihre alten Filme wiedersehen? Auf der Website Ihrer Stiftung gibt es einen Dokumentarfilm, in dem man Sie bei der Restaurierungsarbeit sieht. Sie sehen glücklich aus dabei.
Das Verrückte ist, dass man an die Situationen des Drehens normalerweise nicht mehr rankommt, also an den Menschen, der man war, als man diesen oder jenen Film gemacht hat. Wer man selbst war, als man jung war, das ist einem ja wenig zugänglich. Aber wenn ich diese Filme so intensiv wiedersehe, wie das beim Restaurieren notwendig ist, dann steht mir die Erinnerung an die Dreharbeiten wieder deutlich vor Augen, dann weiß ich plötzlich wieder sehr genau, wie das war, etwa 1973 „Alice in den Städten“ zu drehen, was für eine Unschuld es gab, so ein Road Movie zum ersten Mal zu drehen. Es ist gut, sich daran zu erinnern, auch weil man erkennt, dass man zu solch einer Arbeit nicht mehr fähig wäre, allein schon durch all die Zeit dazwischen, die das Filmemachen so radikal verändert haben.
„Anselm. Das Rauschen der Zeit“ von Wim Wenders kommt am 12. Oktober in die deutschen Kinos