Nachruf

Abschied von Zvi Hecker

Die Bauten des israelischen Architekten sind visionäre Skulpturen jenseits aller Dogmen. Jetzt ist Zvi Hecker mit 92 Jahren gestorben. Ein Nachruf

Von Sebastian Preuss
26.09.2023

Das Rathaus in Bat Yam südlich von Tel Aviv ist ein unglaublicher Bau. Es besteht aus drei horizontalen, übereinandergelagerten Schichten, jede kragt über die untere hinaus, sodass der Komplex nach oben hin immer schwerer erscheint. Die Betonschichten, hinter denen sich jeweils ein Stockwerk verbirgt, kehren das Spiel von Lasten und Tragen um, während die Außenflächen von Fliesenfeldern aus quadratischen Rauten gerastert werden. Dazwischen kleinteilige „Gitter“ aus Glasbausteinen.

Im Grunde ist das Ganze eine Bauskulptur. Dazu gehöre eine ausladende kubistisch gebrochene Außenrampe und prismatisch zackige Lüftungsaufsätze auf dem Flachdach. Alles aus Beton, sehr raffiniert, voller unerwarteter Architektur- und Raumerlebnisse. Ein exzentrisches Meisterwerk, das Zvi Hecker 1961–63 gemeinsam mit Alfred Neumann und Eldar Sharon realisierte. Hecker war für alle, die sich etwas differenzierter für Architektur interessieren, eine lebende Legende. Am Sonntag ist er mit 92 Jahren in seiner Wohnung in Berlin gestorben. Er hatte in Israel und Deutschland viele Bewunderer, die ihn jetzt sehr betrauern. Denn er war einer der letzten aus einer Epoche, in der sich der junge jüdische Staat voller Elan und künstlerisch bedeutender Ansätze ein neues architektonisches Gesicht verlieh.

In der Fülle der faszinierenden „brutalistischen“ Betonbauten, die in Israel in den Sechziger und Siebzigern entstanden und bis heute das Land prägen, ragen die Schöpfungen von Hecker heraus. Reine Funktionalität, optimale Flächenausnutzung oder gar der schiere Profit waren ihm nie wichtig. Er ging von gezeichneten, gemalten oder skulptierten Visionen aus; der Schritt von der bildenden Kunst zur Architektur und zurück war essentiell für ihn. Entsprechend individuell, schräg, futuristisch, zuweilen auch in der Exaltiertheit auf die Spitze getrieben waren Heckers Projekte, von denen so manche wegen ihrer komplizierten Realisierbarkeit Träume auf Papier blieben.

Die Fotokünstlerin Stephanie Kloss, die seine Bauten und viele andere Meisterwerke des Brutalismus in pointierten Aufnahmen festhielt, zeigte im vergangenen Jahr in ihrem Berliner Projektraum „Die Möglichkeit einer Insel“ Heckers Skizzenbücher aus allen Werkphasen. Da konnte man wunderbar sehen, wie er Bauformen und urbane Strukturen aus dem Zeichnerischen und Malerischen entwickelte und dadurch zu höchst ungewöhnlichen Ergebnissen kam. Er war ein Visionär durch und durch, der es hasste, beim Bauen Kompromisse einzugehen.

Wenn er sich aber mit seine Ideen gegen alle statischen, materialbezogenen und wirtschaftlichen Bedenken durchsetzte, schuf Hecker herausragende, singuläre Bauwerke. Etwa das Palmach Museum of History in Tel Aviv, 1993–98, das aus zwei gegenläufigen Dreiecken besteht. Oder das vielfach zerklüftete Dubiner Apartment House in Ramat Gan, 1961–63, eine humanistische Trutzburg des Wohnens; die aus Polyedern zusamengefügte Synagoge der Militärakademie in der Negev-Wüste, 1967–69. Völlig jenseits aller gängigen Strömungen plante er auch 1984–89 das Spiral Apartment House in Ramat Gan: Fragment und der Anschein des Unvollendeten wurden hier zum Programm.

Zvi Hecker Stephanie Kloss
Der Architekt Zvi Hecker im Dezember 2022 in Berlin. © Foto: Stephanie Kloss

Hecker wurde 1931 in Krakau geboren. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 floh die jüdisch-bürgerliche Familie über Sibirien nach Samarkand. Zurück in Polen, studierte Hecker nach dem Krieg Architektur in Krakau, bevor er 1950 nach Israel auswanderte und dort weiterstudierte und auch an der Kunstakademie in Tel Aviv Malerei belegte. Neben seiner Bautätigkeit mit unterschiedlichen Partnern engagierte er sich in Stadtplanungen für Tel Aviv, Montreal und Philadelphia und lehrte an Hochschulen in der ganzen Welt.

Im Jahr 1991 zog er nach Berlin und gründete dort ein zusätzliches Büro. Vor allem um dort die jüdische Heinz-Galinski-Schule zu realisieren. Er ging von der Form der Sonnenblume aus, deren Blätter ihn zu spitzwinkligen Bauteilen inspirierten, die er wie in einer Zentrifuge nach außen schießen ließ. Eine Glanzleistung des postmodernen Dekonstruktivismus.

Hecker war bis zuletzt rege, agil, scharte in seiner Berliner Wohnung gern viele Architektinnen und Architekten, überhaupt Kunstschaffende um sich. Er bildete eine vitale Brücke nach Israel, die seine deutschen Bewunderinnen und Bewunderer gerne annahmen. Er wird ihnen allen fehlen.

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