Julius Meier-Graefe

Der Glühende

Drei neue Bücher feiern den größten deutschen Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe. Florian Illies über einen mutigen Sprachartisten und seine späte Würdigung

Von Florian Illies
08.05.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 212

Zweiter Frühling für eine große Liebe: Endlich, fast hundert Jahre nach seinem Tod, schließen die Deutschen wieder Julius Meier-Graefe (1867–1935) in ihr Herz, diesen einzigartigen Kunstschriftsteller, der so schillernd wie entflammbar war und der zur Jahrhundertwende fast im Alleingang die französische Kunst in den deutschen Sehnerv einmassierte. Und zwar nur mit Worten. Seine Sprache war muskulös, und seine sehnigen Sätze liefen ineinander wie geölt. Als er 1904 seine mehrbändige „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ vorlegte, in der er mit einer umwerfenden Geschmeidigkeit die gesamten Künstler der Moderne mit der Kraft seiner Hände auf neuartige Weise zusammenformte, da staunte eine ganze Nation: über so viel Mut, so viel Fleiß, so viel Anarchie und so viel Kennertum. „Meier-Graefe ist deshalb unvergleichlich und fesselnd, weil er eben selbst wie ein Verliebter durch die Schönheit seiner Objekte hingerissen wird“, so urteilte der gleichfalls mitgerissene Künstler Alfred Kubin.

Und es war genau diese Sprache des Verliebten, dieses Staunen im Stakkato, das zu seinen Lebzeiten auch immer zu seiner Ablehnung führte, zum Naserümpfen bei den Kunsthistorikern, die die Verschmocktheit der Verliebtheit vorziehen, und zur Verstörung der Schriftsteller, die ihr Feld gerne frei gehalten hätten von jenem Herrn im dreiteiligen Anzug, der im Betrachten der Kunst plötzlich eine Sprache entwickelte, die, nun ja, eigentlich schon literarisch war. Ja, seine schwelgerischen Wortkaskaden, mit denen er den Deutschen Corot nahebrachte und Manet, Delacroix und Renoir (also die in seinen Augen unbedingt zu liebende Kunst des Erzfeindes!), erinnern in ihrem tupfenden Impressionismus und ihrem mitreißenden Sprachstrom am ehesten an die zeitgleichen Naturschilderungen eines Eduard von Keyserling. Und genau wie bei diesem brauchte es den Abstand eines Jahrhunderts, um die Kühnheit und Modernität von Meier-Graefe wirklich angemessen feiern zu können.

Edvard Munch Julius Meier-Graefe
Edvard Munchs Porträt von Julius Meier-Graefe entstand um 1894. © Børre Høstland/Nasjonalmuseet, Oslo

Meier-Graefe, 1867 in einem versteckten Zipfel des Habsburgerreiches geboren, musste auf Wunsch des Vaters für eine einjährige Lehrzeit in eine Maschinenfabrik in Wetter an der Ruhr – doch dann zog es den Rastlosen nach kurzen Umwegen über Zürich und München in den Maschinenraum der Moderne, nach Berlin. Er studierte bei Treitschke Geschichte und bei Simmel Philosophie – besser kann man es kaum haben, denn nachmittags und abends studierte er die Kunst, in den Museen und inmitten der Boheme, er wurde ein enger Freund von Edvard Munch, dessen Malerei er 1894 seinen ersten Text widmete. Und von diesen allerersten Zeilen an schrieb er über Kunst wie niemand zuvor, Kunsturteil und Kunsterlebnis unauflöslich miteinander verbindend: „Der Mensch, der so etwas schafft, ist nicht für die kleine halbverweste Kunst geboren, die alten morschen Nähte platzten an allen Ecken und Enden. Der ruhelose Geist, der vor lauter Empfinderei noch nicht ums Denken gekommen ist, für den war Munchs Kunst der Wutschrei nach Freiheit.“

So also betrat Julius Meier-Graefe, dieser Energiebolzen und Sprachartist, die Bühne. Und nie wird er in den nächsten vier Jahrzehnten in seinem Schreiben dieses Erregungslevel verlassen. Mit seinen Worten verband er die Kunst und das Leben wie zwei Enden eines Elektrokabels, die zwischen seinen Händen wilde Funken schlagen. Sie leuchteten die dunklen Winkel des Kaiserreiches aus. Doch ihr Licht strahlt auch problemlos über das ganze 20. Jahrhundert hinweg. Immer wieder gab es Versuche seiner Rehabilitation, aber jetzt ist es endlich so weit.

Julius Meier-Graefe
Julius Meier-Grafe gründete in Paris die Galerie La Maison Moderne und ließ sie von Henry van de Velde einrichten. © Christie’s Images, London/Scala, Florence

Zentral für die endgültige Etablierung Meier-Graefes im Herzen der deutschen Kulturgeschichte des deutschen Kaiserreiches ist Catherine Krahmers fundamentale Biografie „Julius Meier-Graefe. Ein Leben für die Kunst“ (Wallstein Verlag). Seit Jahrzehnten forschte die inzwischen 85-jährige Krahmer von Paris aus akribisch zum Wirken ihres Helden, ging versunkenen Pfaden nach, hob verborgene Schätze, nun zieht sie die Summe ihres Lebenswerkes auf der Basis eines reichen unveröffentlichten Materials. Aber wie es ihrem dezenten Wesen entspricht, hält sich die Biografin in ihrem 600 Seiten starken Buch immer wieder vornehm zurück und lässt die Zitate sprechen – diese Zurückhaltung führt zu einer interessanten Ermächtigung der Leserin und des Lesers: Man darf sich in einem fort selbst ein Urteil erlauben, man nimmt sehr aktiv teil am atemlosen, turbulenten, staunenswerten Leben und Arbeiten dieses witzigen, arbeitswütigen, schönheitssüchtigen und temperamentvollen Impresarios, der zwischen Berlin und Paris hin- und herpendelte und zwischen seinen Berufen als Schriftsteller, Galerist für Kunstgewerbe in der Maison Moderne, Herausgeber und Gründer von Zeitschriften wie PAN, Sammler der französischen Impressionisten und glühender Missionar für eine bessere, weil geschmackvollere Welt.

Genauso mäandernd wie sein Leben und sein Reden ist auch das Assoziationsgewitter seines Schreibens: Krahmer analysiert Meier-Graefes Verfahren sehr überzeugend im Sinne von Deleuze als ein „Rhizom“, weil er in seinen Texten permanent die unterirdischen Wurzelwerke untersucht, die die verschiedenen Künstler miteinander verbinden, befruchten, stimulieren oder hemmen. Wenn er hellsichtig schreibt, dass von Manet vor allem die beiden Frühwerke „Olympia“ und „Frühstück im Grünen“ als revolutionär in Erinnerung bleiben werden, dann finden sich diese Worte in einem Buch über Renoir. Dort finden sich auch unzählige Seiten und kluge Bemerkungen zu Delacroix. In dem Buch über Manet liest man sehr viel über Courbet. Und wenn man das Buch über Courbet aufschlägt, dann erfährt man dort auch sehr viel über dessen unterirdische Verbindungen zu Cézanne. Meier-Graefe setzt permanent alles gleichzeitig in Schwingung und erspürt dann, wer wirklich auf einer Wellenlänge liegt, es geht ihm immer um Sichtbarmachung – durch Vergleiche, durch tollkühne Sprachspiele, durch Perspektivwechsel, durch Ekstase. Wenn er genießerisch über „malerische Delikatesse“ schreibt, dann glaubt man, Kunst sei etwas zu essen.

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