Für seine Bilder bereist Alec Soth die kulturellen Randzonen der USA. Sein neuestes Buch erzählt von der Spaltung der Gesellschaft, von Abraham Lincolns Leichnam und von kuriosen Begegnungen mit seinen Helden der Fotografie
Von
17.03.2023
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 206
Die geistige Nähe zur intimen Fotografie von Nan Goldin verstehe ich. Aber was fasziniert Sie an dem eher lyrisch-versponnenen Ansatz von Duane Michals?
Zu Nan Goldin wirkt meine Verbindung offensichtlich, und doch ist sie auf eine andere Art unglaublich weit entfernt von mir: Sie konzentriert sich auf die Menschen, die sie liebt, und hat einen eher nonchalanten Umgang mit der Kamera. Gewissermaßen das genaue Gegenteil von meiner Arbeitsweise. An Duane Michals fasziniert mich vor allem, wie unbeirrt er sich seinen eigenen Weg gebahnt hat. Und ich bewundere ihn, weil er als älterer Fotograf im Umgang mit seinem Werk großen Humor und Leichtigkeit offenbart. Außerdem ist auch noch Sophie Calle in meinem Buch!
Tatsächlich? Das Bild muss ich übersehen haben!
In einer Fotografie ist sie unter der Bettdecke versteckt.
Sie waren im Bett mit Sophie Calle? Das ist lustig, Ende der Siebzigerjahre hat sie doch ihre Serie „The Sleepers“ gemacht, bei der sie Menschen einlud, sich in ihr Bett zu legen und zu schlafen. Dabei hat sie ihre Gäste dann fotografiert.
Streng betrachtet, war ich nicht im Bett. Die Geschichte zu dem Bild ist besonders: Wenn möglich, verbringt Sophie Calle ihre Sonntage im Bett. Ich war auf einem Roadtrip mit meiner Tochter und kam an einem Sonntag durch San Francisco. Ich erfuhr, dass Sophie Calle in der Stadt war. Also fragte ich, ob ich sie besuchen kann. Nichts davon war geplant, ein Schritt führte zufällig zum nächsten. Wir saßen dann also in Sophie Calles Hotelzimmer und sie erzählte meiner Tochter, dass sie selbst einmal als junge Frau mit ihrer Mutter einen Roadtrip durch die USA gemacht hatte. Im kalifornischen Bolinas gefiel es ihr jedoch so gut, dass sie ihrer Mutter sagte, dass sie bleiben wollte. Und dort begann sie zu fotografieren. Sie ging mit der Kamera auf Friedhöfe.
Eine erstaunliche Geschichte!
Finde ich auch. Als Abschluss besuchten meine Tochter und ich einen Friedhof in der Nähe, auf dem Sophie Calle ein Grab für sich gekauft hat. Sie besitzt auch noch eine zweite Grabstelle, in Paris. Sie kann sich nicht entscheiden, wo sie begraben sein will. Kurioserweise hatte ich auf der Reise Gespräche mit meiner Tochter darüber geführt, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Und plötzlich gab es das Beispiel dieser Frau, die ihren Lebenssinn durch einen glücklichen Zufall gefunden hatte. Es versteckt sich also eine sehr komplizierte Geschichte hinter dieser Aufnahme.
Welche Rolle spielte Abraham Lincoln für dieses Buch?
Der Transport von Lincolns Leichnam durch Amerika im Jahr 1865 war am Anfang der geistige Anker des Projekts. Zwischendrin gefiel mir diese Idee nicht mehr, und ich verwarf sie. Aber dann begann ich langsam wieder, Lincoln zuzulassen. Denn einige der besten Lincoln-Bilder entstanden, nachdem ich das Projekt verworfen hatte – weil ich weiter über ihn nachdachte und Orte besuchte, die für ihn wichtig waren. Aber es ging mir nicht mehr darum, eine bestimmte Aussage über ihn zu illustrieren. Nun ist er ein Element unter vielen im Buch, wie Blumen oder andere Fotografen.
Ja, aber warum gerade Lincoln?
Weil mich die Spaltung unserer Nation beschäftigte. Ich dachte über den amerikanischen Bürgerkrieg nach. Und wie Lincoln in seinem Tod die Menschen zusammengebracht hat. Aber auch Walt Whitmans Gedicht über ihn war eine wichtige Inspiration. Ich bewundere Whitman, weil er über alles schreiben kann: seine Gefühle, den Bürgerkrieg, eine kleine Blume. Eine solche Offenheit strebe ich an.
Im Buch gibt es ein Foto, das in Gettysburg entstanden ist, wo Lincoln seine berühmteste Rede hielt. Und doch zeigt das Bild keinen historisch relevanten Ort, sondern einen jungen Mann namens Xavier auf einer Wiese.
Interessanterweise hat mich bisher kein Journalist auf dieses Foto angesprochen. Es ist eher subtil und ich habe es aus einem bestimmten Grund gemacht: Auf meiner Reise hatte ich am Armaturenbrett meines Autos ein Porträt von Walt Whitman kleben. Ich habe ständig über Whitman nachgedacht, auch über seine Sexualität. Und der junge Mann in Gettysburg war so hübsch – Whitman hätte ihn geliebt. Das Foto entstand, nachdem ich die Lincoln-Idee aufgegeben hatte, ich war zufällig in der Nähe von Gettysburg und dachte, ich schaue es mir mal an. Jetzt stellt sich die peinliche Frage, wie das alles zusammenpasst. Doch ich mag dieses Bild sehr.
Das Buch heißt „A Pound of Pictures“. Warum ist es Ihnen wichtig, der Fotografie ein Gewicht beizumessen?
Als ich nach einigem Herumexperimentieren mit dem Titel auf „A Pound of Pictures“ kam, gefiel mir der Klang der Worte, aber auch diese Vorstellung von Gewicht. Denn meine Form der Fotografie findet in der physischen Welt statt und hat mit physisch existierendem Film und einer physisch vorhandenen Kamera zu tun. Es ist also ein körperlicher Akt. Und dann gibt es diesen Haufen an Fotografien, die ich metaphorisch auf meinem Rücken mitschleppe. Ein Ziel dieses Buchs war es, mich von diesem Gewicht nicht in die Knie zwingen zu lassen.
In der Fußnote zu Ihrem Bild „Fort Worth, Texas“ schreiben Sie: „Wenn mich das Gefühl belastet, dass es in der Welt zu viele Fotografien geben könnte, frage ich mich, ob es auch zu viele Blumen gibt.“
Diese Überlegung war eine Erleichterung für mich: Man kann nie genug Blumen haben. Außer vielleicht man arbeitet als Florist und denkt sich: „Verfluchte Blumen, schon wieder mehr davon!“ Genauso tendieren wir Fotografen dazu, uns eine Menge Gedanken über unsere Haufen von Bildern zu machen. Aber keine Sorge, es ist schon okay. An einem bestimmten Punkt muss man loslassen, sich entspannen und die geschulterte Last akzeptieren.
Alec Soths Buch „A Pound of Pictures“ ist 2022 bei Mack erschienen, es hat 156 Seiten und kostet 70 Euro.