Sergiy Maidukov

„Wir sind alle erschöpft“

Der Illustrator Sergiy Maidukov zeichnet seit einem Jahr sein Leben in Kiew und den Ausnahmezustand in der Ukraine. Ein Gespräch über die Angst, das Zeichnen im Kriegsalltag und die Sehnsucht nach seiner Tochter

Von Christoph Amend
10.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 209

Sergiy Maidukov, von wo aus facetimen Sie gerade?

Aus meiner Wohnung in Kiew, die auch mein Studio ist, mein Schlafzimmer ist nebenan.

Dort wurden Sie am Morgen des 24. Februar vergangenen Jahres von lauten Einschlägen geweckt. Ihnen war schnell klar: Das bedeutet Krieg.

Ja.

Von diesem Moment haben Sie mir erzählt, als Sie kurz darauf mit Ihrer wöchentlichen Kolumne im ZEITmagazin begonnen haben. Seitdem zeichnen und schreiben Sie aus Ihrem Alltag. Wie geht es Ihnen heute?

Nach unserem Interview treffe ich meine Mutter, die an Krebs erkrankt ist. Heute endet ihre erste Bestrahlungstherapie, und wir hoffen, dass es ihr bald besser geht.

Sergiy Maidukov
Januar 2021: Vorboten des Krieges: An die Wand hat ein Mann das Wort „Ukrittja“ geschrieben, den Hinweis für einen Schutzraum. © Sergiy Maidukov

Das tut mir leid zu hören.

Danke, wir sind alle erschöpft. Logistik, Zeit, Geld, es ist alles sehr kompliziert in unserer Situation gerade, aber wenn ich das einmal beiseitelasse, geht es mir gut, auch wenn der Krieg da draußen weitergeht.

Der Krieg währt bald ein Jahr. Wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Der Sommer und der wärmere Teil des Herbstes bestanden aus vielen kleinen Reisen, die damals noch möglich waren. Jetzt im Winter lebe ich mit der ständigen Angst vor neuen russischen Raketenangriffen. Der letzte fand gestern statt, ich wurde um fünf Uhr morgens von drei Explosionen geweckt, es waren russische Drohnen, die vom ukrainischen Abwehrsystem getroffen wurden. Es waren also keine Explosionen auf dem Boden, sondern in der Luft. Wenn ein Tag so beginnt, komme ich an meine Grenzen, auch emotional, es kostet so viel emotionale Kraft, damit umzugehen.

Als der Krieg losging, haben Sie sofort Ihre Tochter und deren Mutter aus Kiew weggeschickt, in Richtung Frankreich, um sie in Sicherheit zu bringen. Wie geht es den beiden heute?

Sergiy Maidukov
Sergiy Maidukov, 42, ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seit 2006 lebt er in Kiew. Als Illustrator arbeitet er unter anderem für das Magazin The New Yorker. © Sergiy Maidukov

Sie sind weiterhin in Frankreich. Ich habe meine Tochter am 16. März das letzte Mal getroffen, damals waren sie noch in Lwiw im Westen der Ukraine, in der Nähe der polnischen Grenze. Meine Tochter besucht eine französische Schule, und ich glaube, dass ihre Ausbildung etwas leidet, aber sie ist natürlich glücklich darüber, dass sie als Ausländerin weniger Hausaufgaben machen muss. (lacht) Sie lebt mit meiner Ex-Frau, mit der ich übrigens weiterhin eng befreundet bin, in einer kleinen Kommune in einer ehemaligen Kirche, die von Leuten vor Ort so umgebaut wurde, dass drei Familien dort leben können. Meine Ex-Frau wird von den Behörden finanziell unterstützt, sie erhält 300 Euro im Monat, die beiden können dort umsonst wohnen.

Das ist trotzdem nicht viel.

Ich unterstütze sie natürlich, so gut ich kann, finanziell, emotional, ich schicke ihnen auch ständig Pakete. Ich spreche fast jeden Tag mit meiner Tochter, aber ich rufe sie nur an, wenn ich etwas zu erzählen habe – oder wenn ich ihr neue Zeichnungen zeigen kann. Meine Ex-Frau und ich reden auch sehr oft.

Zeigen Sie Ihrer Tochter auch die Bilder, die Sie für Ihre ZEITmagazin-Kolumne malen?

Nächste Seite