Wir begeben uns auf eine Kunstreise ins Londoner East End, das typisch ist für das „andere“ London – und zu seinen Künstlerinnen und Künstlern: der East London Group
Von
12.09.2022
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 13/22
In den Arbeiten von Doreen Fletcher (* 1952) lebt das künstlerische Erbe der Gruppe bis heute fort. Ihre Bilder lassen gelegentlich an Edward Hopper denken, aber sie besitzen nicht dessen Kühle und distanzierte Strenge. Insgesamt aber sind Fletchers Werke gänzlich eigen – sprechen gewissermaßen einen sehr speziellen englischen Akzent. Das liegt zum einen an ihren Motiven aus dem East End, das in vielen Variationen detailliert vor Augen geführt wird; zu sehen sind dort abblätternder Putz, vergammelte Poster, verbeulte Autos, stillgelegte Pubs und – wie bei Hopper auch – verlorene Gestalten. Die Straßenecken, Bushaltestellen, Cornershops sind jedoch echte Lokalitäten und – sofern nicht zwischenzeitlich abgerissen – immer noch auffindbar. In Gesprächen betont Fletcher die Wichtigkeit wiederholter Ortsbesuche zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten und bei unterschiedlichem Wetter. Eine wichtige Rolle in ihren Bildern spielt der Stadthimmel, er verleiht ihren Motiven eine ganz spezifische Strahlkraft. Seine Farbe ist eine Mischung aus typisch englischem, blass-verwaschenem, nie ganz wolkenfreiem Blau – der nächste Schauer schon auf dem Weg – und Großstadtsmog. So entsteht bei aller handwerklichen Virtuosität und realistischen Wiedergabe ein melancholischer, fast romantischer Grundton. Doreen Fletchers letzte Ausstellung „Traces“, fand von 18. Juni bis 9. Juli in der Galerie Townhouse, Fournier Street, in Spitalfields, statt.
Seit den Achtzigerjahren weitestgehend abseits des Mainstreams in London tätig, ist ihre mittlerweile gewachsene Anerkennung eng mit der Wiederentdeckung der East London Group durch die Detektivarbeit von David Buckman verbunden – tatkräftig unterstützt von der bemerkenswerten Online-Seite „Spitalfields Life“ des Gentle Author: Für jeden, der sich wirklich für die Geschichte und die Geschichten Ostlondons interessiert, ist sein kulturgeschichtlicher Blog eine wahre Fundgrube.
David Buckman, From Bow to Biennale. Artists of the East London Group
The Gentle Author, Spitalfields Life, spitalfieldslife.com
East London Group, eastlondongroup.co.uk
Doreen Fletcher, doreenfletcherartist.com
Museum of Childhood: Eine Dependence des Victoria&Albert Museums in einer typisch-viktorianischen Stahl- und Glashallenkonstruktion, die in den 1860er-Jahren aus Südlondon hierher verfrachtet wurde.
Whitechapel Art Gallery: Eine der großen öffentlichen Kunstgalerien, 1901 zur Förderung zeitgenössischer Kunst gegründet.
Museum of the Home: Jüngst umgestaltet und neu eröffnet, sind es vor allem die historischen Raumensembles, die einen Eindruck vom Leben in vergangenen Zeiten geben.
Victoria Park: Einer der großen Parks Londons, bekannt sind vor allem das Wasserhaus der Baroness Burdett-Coutts und die Alkove von der alten London Bridge. Vom östlichen Ende kann man die Anlagen der Olympischen Spiele von 2012 erspähen.
Bethnal Green Park: Im Volksmund auch „Barmy Park“ genannt („barmy“=verrückt), nach der alten Irrenanstalt hier.
Grand Union Canal: Teil des uralten Netzwerks von Wasserwegen, die die Hauptstadt durchziehen. Bis weit ins 20.Jahrhundert hinein für die Versorgung Londons essentiell, heute idyllische und beliebte Orte zur Erholung.
Statue „Blinder Bettler mit Hund“ von Elisabeth Frink, das uralte Symbol des Stadtteils und eines der ersten öffentlichen Werke der bemerkenswerten britischen Bildhauerin.
Columbia Road Flower Market & Broadway Market: Beispiele der zahllosen, teils legendären Straßenmärkte, die ein fester Bestandteil des immateriellen Erbes der Stadt und Spiegelbild seiner Einwohnergruppen sind.
Hackney City Farm & Stepney City Farm: Diese kleinen, unerwarteten landwirtschaftlichen Anlagen lockern wie kleine Oasen das Stadtbild auf.
Ragged School Museum: Die Armenschule des legendären Dr. Barnardo ist ein Beispiel für das ausgeprägte karitative Engagement Englands zur Zeit von Charles Dickens.
Und zur Pause vielleicht in eines der alten East-End-Lokale: Pelicci’s, Kelly’s oder Manzi’s, wo „Banter“ – Frotzeleien – zum Service gehören wie die Milch in den Tee. Oder in eine der alten jüdischen Bäckereien mit ihren Bagels, süßen Köstlichkeiten und rüder Bedienung. Die besten Bagels gibt es in der Brick Lane im „Beigel Bake“ – das ist zwar längst kein Geheimtip mehr, aber immer noch unübertroffen in London