Übermalungen in der Kunstgeschichte

Geschichte des Feigenblatts

Seit der Renaissance ist Nacktheit in der Kunst ein Stein des Anstoßes, auch Michelangelos Sixtinische Kapelle wurde nachträglich entschärft. Wie steht es heute um die Prüderie der Bilderwelt?

Von Peter Dittmar
09.05.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 6/22

So ließ 1739 König Carlo Emanuele III. von Piemont-Savoyen 38 Bilder von Tintoretto, Veronese und Michelangelo verbrennen, weil „die Nacktheiten, die dort dargestellt sind, die Unschuld seiner Kinder gefährden“ könnten. Und Papst Clemens XIII. verordnete 1758 und 1759 den berühmten Antiken im Vatikan jene Feigenblätter, die bald europaweit Museumskarriere machten. Damals schrieb Winckelmann dem Baron von Stosch: „Diese Woche wird man dem Apollo, dem Laokoon und den übrigen Statuen im Belvedere ein Blech vor den Schwanz hängen vermittelst eines Drats um die Hüften: vermitlich wird es auch an die Statuen im Campidoglio kommen. Eine eselmäßige Regierung ist kaum in Rom gewesen wie die itzige ist“.

Michelangelo, „Auferstandener Christus“, nackt, Lendentuch
Michelangelo hat den „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva nackt dargestellt, in barocker Zeit bekam er ein Lendentuch aus Bronze. © Wikimedia Commons

Aber diese „Eselei“ machte Schule. Auf Dürers „Selbstmord der Lucretia“ wurde, obwohl sie bereits ein wenig verhüllt war, das Hüfttuch erheblich verbreitert – was, weil die Farben unterschiedlich gealtert sind, inzwischen deutlich zu erkennen ist. Da war ihr Ebenbild, das der ältere Cranach gemalt hatte, besser dran. Das Kleid, das man der nur mit einem durchsichtigen Schleier Bekleideten vor 1628 verpasst hatte, durfte sie dank eines Restaurators 1919 wieder ausziehen (beide Werke Alte Pinakothek, München).

Vor allem aber betraf der Hang, angeblich Anstößiges zu verbergen, Michelangelo. Als „inventor delle pocherie“ (Erfinder von Schweinkram) beschimpften ihn Zeitgenossen. Und nicht nur die. In der Cappella Paolina, einer der drei Privatkapellen im Vatikan, blieb auf seinem Fresko der „Kreuzigung des Heiligen Petrus“ auch nach der Restaurierung 2004 bis 2009 das – wenngleich recht schmale – Schamtuch, das im 16. Jahrhundert von einem unbekannten Maler im päpstlichen Auftrag hinzugefügt worden war, erhalten. Das sei wohl aus Rücksicht auf Benedikt XVI., dem gern gegenreformatorische Ideen nachgesagt wurden, so belassen worden, spekulierte man. Dem widersprach jedoch Antonio Paolucci, Direktor der Vatikanischen Museen. „Hintergedanken theologisch-politischer Art“ hätten dabei keinerlei Rolle gespielt. Entscheidend sei allein die „moderne Theorie der Restaurierung“ gewesen, die unter Umständen auch spätere Übermalungen als historische Zeugnisse respektiere. Das wird auch bei Michelangelos Skulptur des „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva ins Feld geführt. Michelangelo hatte Christus – um zu zeigen, dass er den Tod als Mensch überwunden hat – nackt, das Kreuz mit beiden Händen haltend, dargestellt. Doch nachdem ein Mönch Jahrzehnte später den Penis abgeschlagen hatte, wurde die Plastik mit einem Lendentuch aus Stoff umhüllt, das in barocker Zeit in Bronze ersetzt wurde – diese Version ist bis heute erhalten.

Da erging es Adam und Eva in der Florentiner Brancacci-Kapelle besser. Zwar hatte man ihnen einst auf der „Versuchung“ von Masolino und der „Vertreibung aus dem Paradies“ von Masaccio nachträglich blattreiche Zweige in die Hand gegeben, aber davon wurden sie bei den Restaurierungen im letzten Jahrhundert wieder befreit. Genauso verschwand der Schleier, mit dem Pietro da Cortona die „Mystische Hochzeit der Hl. Katharina“ von Guercino übermalt hatte – wie Carlo Cesare Malvasia in Felsina Pittrice, seinen Lebensbeschreibungen der Bologneser Maler von 1678, berichtet. Cortona, der diesem Auftrag des Papstes ohnehin nur widerstrebend nachgekommen war, hatte Guercino deshalb sogar einen Entschuldigungsbrief geschickt.

Masaccio, „Vertreibung aus dem Paradies“, nackt, Übermalung
Adams und Evas Lenden wurden auf dem Fresko mit der „Vertreibung aus dem Paradies“ von Masaccio (1401–1428) in der Florentiner Brancacci-Kapelle 1680 mit blattreichen Zweigen bedeckt, die bei der Restaurierung in den 1980er-Jahren wieder entfernt wurden. © Wikimedia Commons

Dasselbe Glück hatte auch Bronzinos rätselhaftes Gemälde von „Venus und Cupido“. Der dichte Schleier über dem Schoß der Venus und der Zweig über dem Hintern des Cupido, die 1860 – nachdem die National Gallery in London das Bild erworben hatte – auf Veranlassung von dessen Direktor Charles Eastlake vom Restaurator mit dem beziehungsreichen Namen Raffaele Pinti hinzugefügt worden waren, verschwanden ebenfalls wieder. Und auch die Übermalungen, die zwei Künstler 1802 im Auftrag der Schwestern im Hospiz zu Beaune an den Nackten auf dem „Jüngsten Gericht“ des Flügelaltars von Rogier van der Weyden vorgenommen hatten, konnten 1877 in den Restaurierungswerkstätten des Louvre wieder rückgängig gemacht werden. Denn beide Maler waren sich des „künstlerischen Sakrilegs“ bewusst gewesen und deshalb ungemein vorsichtig zu Werke gegangen. Noch zurückhaltender war man in Gent verfahren. Weil den Bürgern der Stadt Adam und Eva – realistisch nackt, wie sie waren – auf dem Genter Altar der Brüder van Eyck missfielen, entschied man sich 1861 für eine salomonische Lösung. Die Originaltafeln kamen ins Museum und der Maler Victor Lagye malte zwei neue Bilder, auf denen Adam und Eva ihre Blößen unter einem Bärenfell verbargen.

Es waren aber nicht nur christliche Gemälde, die „sittlich gereinigt“ wurden. Das verrät ein Brief, den der Hofmaler Pierre Mignard 1693 an den Superintendanten der Königlichen Bauten schrieb: „Das Bild von Carlo Maratta, das wir in unserem Speicher stehen haben, ist voller Nuditäten, so dass der König es nicht in seinem Zimmer haben will. Es müsste unbedingt einem Maler übergeben werden, damit er um die Daphne einen Fluss herummalt, da sie Körperteile zeigt, die zugedeckt sein müssten.“ Gleicher Meinung waren Museumsleute auch angesichts der Drastik, die die Genremalerei der Niederländer auszeichnete. Jan Steens „Frau bei der Toilette“, die zu viel Bein zeigte, bekam einen Unterrock nachgemalt, und ihr Nachttopf mutierte zu einem Krug. Und mehr als einmal hat man die beliebten Bordellszenen „verbürgerlicht“. So wurde auf dem Gemälde von Willem Buytewech der Nachttopf, in den ein lachender Mann pinkelt, wegretuschiert. Und seine Hand ruht nun auf der Lehne eines Stuhles, zu dem der dreibeinige Hocker erhöht wurde, sodass das Ganze nun scheinbar eine honorige „Fröhliche Gesellschaft“ zeigt. Aus demselben Grund musste auf dem Gemälde von Frans van Mieris der Rüde, der eine Hündin bespringt, verschwinden, weil dieses Nebenbei verriet, dass der Mann und die Frau sich in einem Bordell befinden.

Bronzino, „Venus und Cupido“, nackt, Übermalung
Nachdem die National Gallery in London 1860 Bronzinos Gemälde „Venus und Cupido“ (Öl / Holz, um 1540/45, 146 x 116 cm) erworben hatte, wurden dem Schoß der Venus ein dichter Schleier und dem Hintern des Cupido ein Zweig verpasst, die später wieder entfernt wurden. © Wikimedia Commons

In deutschen Landen versuchte man das Problem gleich grundsätzlich zu lösen. Die „Lex Heinze“, 1892 erstmals in den Reichstag eingebracht und nach dem Scheitern mehrfach umformuliert, strebte – über den „Unzuchtparagrafen“ 184 des Reichstrafgesetzes hinausgehend – die Strafbarkeit von Darstellungen an, „die ohne unzüchtig zu sein das Schamgefühl verletzen“. Das löste eine Welle von Spottbildern aus, die fantasievoll variierten, wie die Nackten – Bilder und Statuen – zu bekleiden seien. An Feigenblättern aus Blech, Gips und oftmals auch aus Karton – weil die „Originale“ immer wieder als Souvenirs entwendet wurden – mangelte es trotzdem nicht. Da war das 19. Jahrhundert besonders eifrig. Was manchem wie von gestern erscheinen mag. Aber so gestrig ist das nicht. Venedig lieferte dafür ein schönes Beispiel, als 2003 nach Protesten der Geistlichkeit Boteros große dralle Damen aus Bronze, die in der Stadt aufgestellt worden waren, die Plätze vor den Kirchen räumen mussten. Genauso wenig sind die moralrettenden schwarzen Balken bei Druckwerken ausgestorben. Und noch immer sorgen Verpixelungen im Fernsehen und in den „sozialen Medien“ dafür, dass die Sittlichkeit keinen Schaden nimmt.

Die, die das lächerlich finden, reden gern von „viktorianischer Prüderie“, weil zu Zeiten der britischen Königin Victoria die öffentliche Moral nach allgemeiner Meinung mit besonderem Eifer hochgehalten wurde. Als 1853 in einem Kabinett von Gore House die ansehnlichen Studienblätter mit nackten Modellen von William Mulready ausgestellt wurden, die John Ruskin als „vulgär und verabscheuungswürdig“ bezeichnet hatte, bemühte sich Cardwell, der Präsident des die Krone beratenden „Board of Trade“, denn auch zu verhindern, dass die Königin diesen Raum betrat. Doch sie ließ sich davon nicht abhalten, meinte „what fine works“, war „amused“ und ordnete an, dass Charles Eastlake (der den Bronzino hatte übermalen lassen) einige für die National Gallery erwarb. Offensichtlich glaubte die Königin – anders als viele Kleriker und Moralapostel damals wie heute – nicht daran, dass die Kunst, auch wenn sie als nackte Wahrheit daherkommt, die Moral untergraben könnte.

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