Augenminiaturen

Schau mir in die Augen

Augenminiaturen verdankten ihre Popularität einst einer Geschichte, die geheim bleiben sollte – und die doch jeder kannte. Auf dem Kunstmarkt sind die Seelenspiegel heute exotische Sammlerstücke

Von Peter Dittmar
10.01.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 20

„Augenschein“ ist ein eigenartiges Wort. Für Juristen scheint es eindeutig zu sein. Für sie ist es „die von einer Behörde in amtlicher Eigenschaft vorgenommene Besichtigung eines Gegenstandes.“ Als Beweis „ad oculos“ gilt, was ihre Augen – ob Tatort oder Asservat, Person oder Tier – zur Kenntnis nehmen. Damit ist den „Augen“ genüge getan. Aber was ist mit dem „Schein“? Bezeichnet er nicht etwas Ungewisses, Unwirkliches, Vorgetäuschtes? Betrügt er das Auge nicht, indem er Sein und Anschein unredlich mischt? Oder absichtlich? Denn was sind die Künste (soweit sie nicht nur Oberfläche sind) anderes als die Herausforderung, über den Augenschein hinaus Sinn und Sein zu erkennen?

Das, was so widersprüchlich klingt, deutet eine Kunst-Kleinigkeit an, die zeitweise sehr beliebt war. Und die ihre Popularität einer Geschichte in höchsten Kreisen verdankt, die geheim bleiben sollte – und die doch jeder kannte.

Es geht um die Affäre eines britischen Thronfolgers. Er 21, die Frau sechs Jahre älter, katholisch, zweimal verwitwet. Zwar von Stand, jedoch nicht standesgemäß. 1784 lernte sie der Prince of Wales kennen. Sein Vater, George III., hätte eine Heirat ausdrücklich genehmigen müssen. Das sahen die Gesetze vor. Aber in Zeiten, in denen Katholiken im Vereinigten Königreich noch nicht gleichgestellt waren, war das unmöglich. Also wich die Dame, Mrs. Maria Fitzherbert, nach Frankreich aus. Dort erhielt sie eine Botschaft, verschlüsselt und vielsagend, die als Heiratsversprechen gedeutet werden konnte und sollte: die Miniatur eines rechten Auges in einem Medaillon. Bald darauf kehrte sie nach England zurück. Man sah beide fortan immer wieder zusammen in der Königsloge der Oper, auch bei anderen Gelegenheiten. Und wenig später, 1785, heirateten sie heimlich. Da der Prince ein Augenmedaillon – verborgen und zugleich nicht verborgen – trug, rätselte die Londoner Gesellschaft, ob sie nun geheiratet hätten oder nicht. Das gemalte Auge war ein Indiz dafür, aber kein Beweis.

Augenminiaturen Anhänger
Der Anhänger des 19. Jahrhunderts mit dem Trauermotiv eines von Wolken umrahmten Auges über einem flammenden Herzen auf einer Säule brachte 2016 bei Toomey & Co. 2250 Dollar. © Toomey & Co. Auctioneers, Chicago

Dass Damen Miniaturporträts als Anhänger offen zeigten, sie mit Freundinnen austauschten, war nicht ungewöhnlich. Aber für Männer galt das als unschicklich. Deshalb wurden solche Bildnisse bestenfalls unter der Weste getragen. So entdeckte man bei Lord Nelson, als man ihn – tödlich verwundet – entkleidete, eine Miniatur der Lady Hamilton. Und von zwei Augenminiaturen, die 1905 in London bei der ersten Ausstellung gezeigt wurden, die sich dieser eigenwilligen Malerei widmete, hieß es – was allerdings inzwischen bezweifelt wird –, es seien die Augen von Lady Hamilton und Lord Nelson. Beweisen lässt sich das kaum. Denn so geheimnisvoll sich diese Miniaturen gaben, so geheimnisvoll blieb auch, wer da ein Auge riskierte, wem diese Ehre zuteil wurde, von wem für wen es ein Versprechen, eine Botschaft, eine Erinnerung war.

Dass der Prince of Wales diese Mode erfunden hätte, ist oft zu lesen. Aber tatsächlich kam sie aus Frankreich. Das verrät das Tagebuch der Lady Butler, die 1785 über den Sohn einer befreundeten Familie notierte, er habe vom Kontinent „ein Auge, in Paris gemalt und in einen Ring gefasst“, mitgebracht – „wahrlich eine wirklich französische, wunderbare Idee, die ich bewundere und der ich Schönheit und Originalität zugestehe.“ Und Horace Walpole spottete zur selben Zeit: „Menschliche Torheit, oder eher französische Torheit, kann so weit gehen, mit Leichtigkeit jegliche Albernheit zu übertreffen. Sie wissen doch, Madame, dass es gegenwärtig Mode ist, nicht ein Porträt zu haben, sondern nur ein Auge? Dass dafür eigens ein Franzose herüber kommt, um hier Augen zu malen.“ Die Engländer waren allerdings nicht auf die Franzosen angewiesen. George Engleheart, Miniaturist im Dienst von George III., hielt in einer Kladde fest, zwischen 1775 und 1813 habe er 27 Augenminiaturen gemalt. Und Richard Cosway, seinem Rivalen am Hof, sind die „Augen“ des Prince of Wales (dem späteren George IV.) wie seiner heimlichen Frau zu verdanken. Jeweils 5,5 Guineas waren dafür zu zahlen, wie sich aus Cosways „Listing Unpaid Commissions“ ergibt.

Augenminiaturen Schmuck
Ein blaues Auge ziert die im 19. Jahrhundert gefertigte Brosche aus Gold und Korallen, die 2016 bei Toomey & Co. 2500 Dollar brachte. © Toomey & Co. Auctioneers, Chicago

Dass „niemand nicht weiß“, wessen Auge als Anhänger, Medaillon, Armband, Ring, Brosche, Dosenzier getragen wurde, ist ein Gutteil Mystifikation. Denn Cosway soll das Auge der Mrs. Fitzherbert mehrfach wiederholt haben. Dem schwärmerischen Kult um Lord Byron kamen Porträts seiner Augen entgegen. Auch soll Marie Louise von Österreich, Napoleons zweite Frau, eine größere Sammlung besessen haben. Gewiss nicht nur von Unbekannten. Außerdem entstanden nicht wenige aus demselben Geist wie der biedermeierliche Trauerschmuck aus oder mit Haaren des Verstorbenen – gedacht als eine Art „Conversation Piece“, um den Toten in Erinnerung zu behalten. Rund ein Fünftel der insgesamt etwa Tausend überlieferten Augenminiaturen sollen solche posthumen „Porträts“ sein. Deshalb wurde dem Bild oft eine reale Locke hinzugefügt. Aber es gab auch bedeutungsträchtigere Versionen. Beispielsweise das von Wolken umrahmte Auge über einer Landschaft mit Bäumen und einer Säule an einem See, über der ein brennendes Herz schwebt. Oder den Engel, der einen Vorhang beiseiteschiebt, sodass ein Auge zwischen Wolken sichtbar wird. 6573 Pfund wurden 2002 dafür bei Christie’s in London gezahlt – was ein beachtlicher Preis war.

Dasselbe Motiv, wenngleich in einer weniger eleganten Ausführung und mit dem Miniaturporträt einer Dame auf der Rückseite, kam 2016, als die 24 Augenminiaturen aus dem Nachlass von Candice B. Groot bei Toomey & Co in Chicago versteigert wurden, auf 2250 Dollar. Die meisten Zuschläge bewegten sich allerdings zwischen 1000 und 3500 Dollar. Lediglich vier Miniaturen wurden höher bewertet. Am höchsten mit 7930 Dollar ein Herzanhänger mit Auge, wobei aber wohl die massive goldene Kette den Ausschlag gab. Denn ein gleichartiger Anhänger ohne Kette fand im Mai 2003 bei Bonhams in London keinen Käufer.

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