Designer Konstantin Grcic

Zwischen den Stühlen

Mit Deutschlands berühmtestem Möbeldesigner unterwegs im Berliner Kunstgewerbemuseum: Konstantin Grcic über seine Lehrzeit als Restaurator, die neuen Bedürfnisse der Tech-Branche und die Psychologie des Sitzens

Von Lisa Zeitz
02.07.2021

Herr Grcic, wie sah die Einrichtung Ihrer Kindheit aus?

Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, wo immer Altes und Neues zusammengelebt hat. Mein Vater war sehr viel älter als meine Mutter, und so waren auch die Objekte, die beide mit in unser Leben gebracht haben. Meine Mutter ist mit Nachkriegskunst und Pop-Art aufgewachsen, und entsprechend waren auch die Kunst und die Möbel. Mein Vater hat Zeichnungen des 18. Jahrhunderts gesammelt, das hat mich insofern geprägt, als dass Objekte der Vergangenheit für mich selbstverständlich sind. Ich trenne ­Altes und Neues nicht. Das eine ist für mich nicht wertvoller als das andere.

Was war damals Ihr Traumberuf?

Als Kind habe ich immer viel gebaut, in erster Linie Modellschiffe. Ich bin von Booten fasziniert und wollte eigentlich Bootsbauer werden. Aber ich habe dann die Möbel für mich entdeckt. Ich mag den Maßstab von Möbeln, weil er etwas mit dem Menschen zu tun hat. Ein Stuhl ganz offensichtlich, aber auch der Tisch, der Schrank oder das Regal, das alles orientiert sich am menschlichen Maß.

Ihre Berufung haben Sie im Umfeld alter Möbel gefunden.

Nach dem Abitur habe ich für ein knappes Jahr bei einem Möbelrestaurator in München gearbeitet. Dort habe ich meine Leidenschaft für die Möbel entdeckt, alte zwar, aber die hatten eine Geschichte. Beim Restaurieren alter Möbel habe ich viel gelernt – nicht nur über das Handwerk, sondern auch über die Kultur der Möbel als Alltagsobjekt.

Mit welchen Antiquitäten haben Sie in der Werkstatt gearbeitet? 

Besonders mit englischen. Wir haben viele Windsor Chairs restauriert und „Gateleg Tables“, also Tische, die man über einen Mechanismus vergrößern beziehungsweise verkleinern kann. Diese Tische sind aus Massivholz gefertigt, mit spindelförmig gedrechselten Beinen. Natürlich gab es auch feinere Antiquitäten, furnierte Kommoden und welche mit Intarsien, aber vor allem hat mich die Konstruktion interessiert. Vom Zerlegen und Wiederzusammenbauen der Möbel habe ich unendlich viel über Möbeldesign gelernt.

Jetzt stehen wir hier im Museum vor einem Tisch aus dem 15. Jahrhundert.

Der Entwurf bringt die Konstruktion zum Ausdruck. Es gibt zwei Kreuze als Beine mit Querverstrebung. Ich mag es, wenn man der Form ablesen kann, wie etwas gebaut ist oder funktioniert. Für mich ist das ein moderner Tisch. Diese Konstruktion könnte man heute genauso wieder aufgreifen.

Konstantin Grcic
Mit dem Blick fürs Detail: Konstantin Grcic und Lisa Zeitz begeben sich auf eine Zeitreise durch das Kunstgewerbemuseum. © Foto: Paula Winkler

Was war das Kleinste, das Sie jemals entworfen haben?

Das Kleinste, würde ich sagen, war diese Uhr. (Er zieht den Ärmel seiner Jeansjacke zurück und zeigt eine schwarze Keramikuhr von Rado.) Viele Details an Uhren sind so klein, dass man sie nur in einem vergrößerten Maßstab entwerfen kann. Man kann sich 0,03 Millimeter einfach nicht mehr vorstellen. Dabei hilft der Computer, mit dem wir das dreidimensionale Uhrenmodell zirka um ein Zehnfaches vergrößern. Auf dem Computer ist das nur ein Knopfdruck, aber im Kopf muss ich den tatsächlichen Maßstab immer im Bewusstsein behalten.

Und was war bisher Ihr größtes Design?

Ich habe das Branding Design für eine 40 Meter lange Segeljacht für Hugo Boss und Alex Thomson Racing entworfen. Auf das Deck habe ich ein Bienenwabenmuster lackiert, das ein bisschen von der Rumpfkonstruktion erzählt, den „Honeycomb“-Strukturen in der Kohlefaserhaut. Beim Design ging es darum, wie groß die einzelnen Sechsecke sind, die wir auf dem Deck abbilden – nicht nur auf die ganze Fläche bezogen, sondern auch als Maßstab für den Segler Alex Thomson …

… der im Jahr 2016 zur härtesten Segelregatta überhaupt aufgebrochen ist, der Vendée Globe, und in 75 Tagen allein die ganze Welt umsegelt hat.

Er musste allein, nachts oder bei Sturm, sicher über das Deck laufen. Das Muster, das Teil unseres Brandings war, wurde für den Segler zu einer Orientierung.

Sie sind berühmt für Ihre Sitzmöbel. Ich habe in Ihrem Berliner Atelier gesehen, dass Sie dreidimensionale Pappmodelle für Stühle bauen. Hier steht vor uns ein italienischer Faltlehnstuhl, vielleicht vom Ende des 16. Jahrhunderts. Woran denken Sie dabei?

Ich frage mich: Wer saß überhaupt auf so einem Stuhl? Dieser Stuhl war ja kein gewöhnlicher Stuhl, wie Stühle es heute für Sie, für mich, für viele Menschen in vielen unterschiedlichen Situationen sind. Wahrscheinlich war die Situation, in der dieser Stuhl steht, und wer darauf sitzt, relativ klar. Ergonomiemodelle wurden damals nicht gebaut. Sie sind von einem bestimmten Sitzmaß ausgegangen, das dem Objekt eine gewisse Präsenz, eine gewisse Gravitas gegeben hat. Es ist kein Thron, aber es hat etwas Thronhaftes. Der Sitz ist weich, die Rückenlehne ist weich. Wahrscheinlich ließ er sich falten. Warum das relevant war … wurde er auf einer Reise mitgenommen? Der Klappstuhl war von der Typologie her weit verbreitet.

Konstantin Grcic
Der italienische Faltlehnstuhl mit Quastenbehang stammt aus dem 16. Jahrhundert und ist im Berliner Kunstgewerbemuseum ausgestellt. © Foto: Paula Winkler

Er erinnert an die Antike, an römische Imperatoren, die auf Kriegszug waren und deshalb bewegliche Möbel brauchten. Dadurch vermittelt er ein Gefühl von Macht.

Vor meinem Industriedesignstudium in London war ich ein Jahr in Spanien. Dort habe ich unheimlich viele dieser Möbel gesehen und fand sie einfach faszinierend. Ich kam aus einer englischen Schreinerlehre, was man fine cabinet making nannte. Alles war sehr raffiniert. Die alten Möbel in Spanien waren im Vergleich viel gröber und massiv, dafür hatten sie eine starke Präsenz. Ich habe mir viel vom Holzhandwerk im architektonischen Kontext abgeschaut, Dachstühle, große Scheunentore, in Burgen oder anderen Gebäuden.

Hier stehen wir nun vor einem Stuhl, den man zum Tisch umklappen kann, aus Frankreich um 1600. 

Wahnsinnig schön! Er ist viel feiner gearbeitet als der Stuhl, den wir eben gesehen haben, hat aber einen ganz einfachen Aufbau. Sehr gerade, eigentlich wie eine Kiste mit gedrechselten Elementen. Die Rückenlehne ist als Achse mit der großen Platte verbunden, die zum Passepartout für den Sitzenden wird. Interessant, dass so etwas in der Zeit überhaupt relevant war, ein Möbel, das zwei Dinge auf einmal kann. Warum eigentlich? Weil man wenig Platz hatte? Oder hat man schon an Situationen gedacht, in denen ich mal hier sitze und mal etwas ganz anderes mache. Das ist doch sehr modern, oder? Das sind Themen, mit denen wir auch heute arbeiten.

Es geht damals schon um Wandelbarkeit und Nutzung.

Ich habe genau dieses Thema vor rund fünf Jahren für den Büromöbelhersteller ­Vitra aufgegriffen, als wir an zeitgenössischen Bürokonzepten gearbeitet haben. Die riesigen Firmen, besonders die im Tech-­Bereich an der Westküste Amerikas, arbeiten alle mit open space, mit sehr großen offenen Büroräumen. In einigen dieser Büros gibt es keine festen Arbeitsplätze mehr für die Mitarbeiter, dafür gibt es viele Meetings zu zweit, zu dritt, zu fünft. Das Arbeiten im Büro ist schon längst nicht mehr an einen festen Arbeitsplatz gebunden. Ich sitze mal am Schreibtisch, mache dann einen Anruf, gehe zum Fenster oder setze mich in eine kleine Koje. Wir haben ein Möbel auf Basis eines Stehtischs für Meetings mitten im Büro entworfen, mit einer runden Platte, die so groß ist, dass man da auch zu fünft oder sechst gut stehen kann. Wenn man sie hochklappt, hat man eine kleine Telefonzelle, in die man sich reinsetzen kann. Das haben wir als Prototyp auf einer Büromöbelmesse gezeigt, aber es ist nie ein Produkt geworden.

Konstantin Grcic
Gio Pontis „Superleggera“ von 1957 inspirierte den Designer, einen ebenso leichten Stuhl zu bauen. © Foto: Paula Winkler

Unternehmen so einzurichten, dass sich Leute in allen möglichen Konstellationen zusammenfinden können, ist jetzt überall ein Thema.

Einerseits sind die digitalen Produkte heutzutage wichtiger als die Möbel geworden – früher waren Möbel, anders als heute, Statussymbol und Ausdruck von Haltung, sogar vielleicht politisch und ideologisch. Andererseits sind die Möbel genau in den Tech-Firmen, die das Digitale produzieren, inzwischen wieder wichtig geworden, weil die Materie, mit der sie sich befassen, so abstrakt geworden ist. Sie programmieren extrem konzentriert ein oder zwei Stunden lang, und dann gehen sie in die Cafeteria. Dort spielt das Möbel wieder eine Rolle: ob sie sich da wohlfühlen, gerne dort sitzen und arbeiten können. Lounge-Bereiche mit Pingpongplatte sind ja inzwischen schon Klischees – aber alle großen Firmen brauchen sie. Apple baut einen neuen Firmencampus, Facebook hat neu gebaut, Google baut neu, und alle drei setzen sich intensiv mit der Einrichtung, das heißt Möblierung dieser neuen Gebäude auseinander.

Ich habe den Eindruck, Möbeldesign wird niemals langweilig.

Manchmal denke ich, mit meiner Leidenschaft für Möbel wäre ich vielleicht nicht mehr am Puls der Zeit. Das Bedürfnis in der Bürowelt zeigt, dass das Möbel unheimlich viel leisten kann, sich aber auch erneuern muss. Die spannenden Möbelprojekte entstehen heute in der Arbeitswelt, weniger im privaten oder im Wohnbereich.

Sie kennen bestimmt den Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“. Auch bei uns in der Redaktion gibt es immer mehr Stehtische. Man macht sich heute mehr Gedanken, was am besten für den Körper ist und wie man physisches Wohlbefinden, Kreativität und Arbeit vereinen kann.

Da tut sich sehr viel, etwa mit Arbeitstischen, deren Platte man hochfahren kann. Das kann toll sein, aber für das Gegenüber auch unangenehm werden. Einer sitzt unten, der andere steht. Der, der sitzt, sieht dann die Kabel, die von meinem Tisch runterhängen, und meinen Bauchnabel. Mit solchen Situationen müssen wir als Designer beim Entwurf solcher Möbel umgehen.

Für Hugo Boss haben Sie eine neue Herbstkollektion entworfen, BOSS x Konstantin Grcic, und sind aus einer geradezu architektonischen Perspektive an das Design von Kleidung herangegangen. Wir sind jetzt in der Modeabteilung des Kunstgewerbemuseums vor einer Stahlreifen-Krinoline stehen geblieben. Sie wirkt fast wie ein Käfig – die englische Bezeichnung ist crinoline cage. Sie dient dazu, das Volumen des weiblichen Unterkörpers zu erhöhen, aber wirkt wie eine Architektur. 

Es geht eigentlich um die äußere Silhouette, um die Form, aber für denjenigen, der es trägt, ist es ein Gehäuse – in dem man sich bewegt oder vielleicht sogar gefangen ist.

Konstantin Grcic Stahlreifen-Krinoline
Der rote Stahlreifen-Krinoline entstand in den Jahren zwischen 1830 und 1863. © Thomson W.S. & E.H, Kunstgewerbemuseum, Staatliche Museen zu Berlin

Wer mit einer solchen Krinoline einen Quadratmeter um sich herum abgesteckt hat, dem kann keiner mehr zu nahe kommen. 

Es ist wie eine Miniarchitektur, trotzdem muss es beweglich bleiben. Es gibt eine eingebaute Knautschzone, wenn man sich setzt. Die Mechanik hat eine offene Struktur wie eine Ziehharmonika.

Architektur hat mit Tragen und Lasten zu tun – wie die Mode: Man trägt Kleidung, aber umgekehrt trägt sie uns auch. 

Ja, ein Sitzmöbel kommt dem auch sehr nah. Es ist wie ein Gewand, fast eine Rüstung oder ein Raum. Es gibt dabei zwei Perspektiven. Ich sitze drin, aber auch: Ich werde darin wahrgenommen. Der Aspekt des Komforts betrifft nicht nur die Ergonomie, wie etwa die Rückenlehne zu meinem Körper passt, sondern auch mein Gefühl, wie ich in diesem Möbel wahrgenommen werde. Dazu eine kleine Anekdote. Wir haben einen Stuhl gemacht, „Chaos“, ein Polstermöbel, das alle Proportionsregeln von einem Sitzmöbel umwirft, allerdings mit einem Plan. Die Sitzfläche ist sehr kurz, das Möbel ist eher breit. Seitlich sitzend findet man eine absolut bequeme Sitzposition auf diesem Möbel, aber im ersten Moment weiß man überhaupt nicht, wie man sich hineinsetzt. Dieses Möbel wurde mal für eine Fernsehtalk-Sendung vorgeschlagen, und als sich die ersten Gäste hineinsetzen sollten, waren sie völlig irritiert, weil sie einfach nicht wussten, wie man sich nun – vor laufender Kamera – in diesen Stuhl setzen sollte, ohne peinlich zu wirken. Nach dem ersten Pilot-Shooting ist das Möbel sofort rausgefallen.

Dafür hätte es besser eine Generalprobe geben sollen.

Ich habe den Stuhl nicht für solche Situationen entworfen. Im Grunde finde ich es gut, dass Möbel etwas auslösen können, eine Unsicherheit oder das Bewusstsein: Ja, das ist ein Stuhl, aber ich weiß gar nicht, wie ich darauf sitzen kann.

Wir sind jetzt im unteren Stockwerk des Kunstgewerbemuseums vor einer ganzen Chronologie von Designerstühlen gelandet, die mit Ihrem „chair_ONE“ endet. Gibt es hier einen Stuhl, der für Sie eine besondere Bedeutung hat?

Hier stehen viele wunderbare Klassiker. „Superleggera“ von Gio Ponti ist ein Re­design eines traditionellen Stuhls aus dem 19. Jahrhundert. An der ligurischen Küste wurden damals leichte Stühle gebaut, aus Holz, sehr kleine Querschnitte, eine Rahmenkonstruktion und dann diese geflochtenen Sitze. Gio Ponti greift das auf und macht daraus einen sehr rationalen Stuhl. Das ist fast wie Flugzeugbau, mit Querschnitten, die gerade nur dort Fleisch haben, wo man das Material braucht, um die Verbindung einzugehen. Was nicht unbedingt notwendig ist, wird weggeschnitten. Der Stuhl wiegt unglaubliche 1700 Gramm.

Er wirkt tatsächlich superleicht.  

Als Schreinerlehrling in England war das für mich eine Ikone. Tatsächlich habe ich einen Stuhl gebaut, der sich daran anlehnt. Meiner hieß „Kite“ – wie der Drachen. Er war anders konstruiert, mit kleinen Aussteifungsdreiecken wie im Drachenbau, um Eckverbindungen auszusteifen. Gio Pontis Stuhl für Cassina war ein erfolgreiches Produkt und wurde wirklich ein Alltagsstuhl. Meiner war das nicht, aber er war ähnlich leicht.

Der Stuhl hat Ihnen den Bayerischen Staatspreis für Nachwuchsdesigner eingebracht, da waren Sie gerade 21.

Ja, mit dem Geld konnte ich für ein Jahr nach Madrid gehen. 

Sind leichte Stühle heute noch immer ein Thema?

Bei Gio Ponti ist die Leichtigkeit wunderbar. Heute diskutieren wir, ob man Stühle aus Carbonfaser macht, die könnten dann sehr, sehr leicht sein, aber es gibt keinen Grund dafür: Denn solche Stühle sind zu leicht. Wenn man beim Hinsetzen mit der Wade an die Kante stößt, würde der Stuhl sofort wegspringen. Es gibt auch beim Gewicht das richtige Maß. Ein Stuhl, finde ich, kann zirka vier Kilo wiegen und wird noch als leicht empfunden. Ein Carbonstuhl könnte noch viel leichter sein, aber das wäre nicht mehr gut. Sitzen kann als Kampf wahrgenommen werden. Vielleicht ist der Stuhl bequem, aber vom Kopf her ist er es nicht, weil ich das Gefühl habe, gleich bricht er.

Konstantin Grcic Stuhl
Konstantin Grcic neben zwei Modellen seines stapelbaren chair_ONE. © Foto: Paula Winkler

Die Reihe von Stühlen hier im Museum erinnert mich ein wenig an die Evolutionsgeschichte, vom Säugetier auf vier Beinen zum aufrecht gehenden Menschen. Ihr „chair_ONE“ wird hier als jüngstes, aktuellstes Beispiel ausgestellt.

Dabei ist der Stuhl schon ziemlich alt. Als er vor 16 Jahren auf der Mailänder Messe vorgestellt wurde, hat er provoziert, was gar nicht mein Anliegen war. Ich wollte einen guten Stuhl mit einer interessanten Technologie entwerfen: Aluminiumdruckguss. Ich hatte einen Stuhl für öffentliche Bereiche im Sinn, also für den Außenraum. Der von einem viel größeren, gröberen Maßstab geprägt ist als das Interior. Den normalen Stuhl einfach nach draußen zu bringen funktioniert meistens nicht. Im Grunde leitet sich diese Konstruktion des „chair_ONE“ aus bestimmten Architekturelementen ab. Er setzt wenig Material ein, das ist nicht nur ökonomisch gedacht, sondern heißt auch wenig Oberfläche, sodass er wenig verdreckt und keine Fläche für Wasserrückstände bietet. Wenig Fläche bedeutet auch, er ist bei Hitze weniger heiß oder bei Kälte weniger kalt. Gleichzeitig ist der Stuhl so konstruktiv, wie er gebaut ist, extrem stabil, das heißt sicher vor Vandalismus. Aber eigentlich muss niemand die Gedanken kennen, die hinter dem Design stehen. Interessanterweise wird der Stuhl nur ganz selten so eingesetzt, wie ich ihn ursprünglich gedacht habe. Meistens wird er im Innenraum eingesetzt und nicht im Stadtraum, draußen.

Er ist unheimlich populär geworden.

Wenn ich zufällig in ein Restaurant komme, das mit „chair_ONEs“ möbliert ist, ist mir das fast unangenehm. Nicht nur, weil ich selbst nicht gerne darauf sitzen möchte, sondern weil ich den Stuhl zum Sitzen und Essen am Tisch äußerst ungeeignet finde. Das hat mich immer irritiert. Andererseits ist es toll zu sehen, was mit solchen Möbeln passiert, nachdem sie mein Büro verlassen. Man kann wenig steuern. Die Dinge leben ihr eigenes Leben.

Am Schluss unserer Tour stehen wir vor ­einem Bugholz-Klassiker von Thonet.

Das moderne Möbeldesign, das industrielle Möbeldesign, beginnt selbstverständlich mit Thonet. Die Typologie ist daran ­angelehnt, wie Stühle damals aussahen. Thonet-Stühle haben dann über das Material und die Technologie ihre Form und ihr Selbstverständnis gefunden. Die Nr. 14 ist die Ikone, der Prototyp.

Kaum zu glauben, dass er 1859 entworfen wurde. Das Industriedesign hat im Biedermeier begonnen!

Er war damals modern und ist es heute immer noch. Man kann einen Holzstuhl nicht moderner produzieren als diesen. Thonet war die erste Firma, die daran gedacht hat, die Stühle zerlegt in Container zu verpacken und erst am Ort, an dem sie gebraucht wurden, wieder zusammenzuschrauben. Auch die Leichtigkeit steckt mit drin. Wir haben eben darüber gesprochen, dass Gio Pontis „Superleggera“ eigentlich zu leicht ist. Der Thonet-Stuhl ist das Maß aller Dinge.

Zur Startseite