Kunstwissen

West-Berlin mit Biss

Zahnweh von Marina Abramović bis Peter Zadek: Im Gästebuch der Arztpraxis von Anatol und Danka Gotfryd hat sich die Kulturprominenz verewigt. Wir geben einen exklusiven Einblick

Von Lisa Zeitz
10.07.2017

Wir schlagen eines der dicken schwarzen Alben auf, die über Jahrzehnte im Wartezimmer der Berliner Zahnarztpraxis von Danka und Anatol Gotfryd angeschwollen sind. Vom Schriftsteller Günter Grass, der Sängerin Nena, den Schauspielern Johannes Heesters, Marika Rökk und Harald Juhnke bis zu Rainer Werner Fassbinder, Samuel Beckett und ­Peter Zadek reicht die Autorenliste der dankbaren Zeilen. Es ist einfach unglaublich, wer alles für das Ärztehepaar den Mund aufsperrte, wen die beiden mit ihren schmerzfrei angesetzten Spritzen versorgten und wem sie ansehnliche Zähne verpassten. Der Boxer Bubi Scholz ließ sich vor seinen großen Kämpfen von Anatol Gotfryd einen Zahnschutz aus Kautschuk anfertigen. In den beiden Alben leuchtet das West-Berlin der Siebziger- und Achtzigerjahre mit seinen vielen schillernden Charakteren wie ein funkelndes Kaleidoskop auf. 

Die Bücher sind auch kunsthistorisch eine Sensation, denn vor allem Künstler haben sich in der Gemeinschaftspraxis am Kurfürstendamm mit ihren Werken in den Alben verewigt, darunter Marina Abramović, Daniel Buren, Allan Kaprow, Rebecca Horn, Roman Opalka, Gotthard Graubner, Gerd Rohling, Maria Lassnig, Heinz Trökes und Franz Gertsch. „Jeder kannte jeden“, sagt Anatol Gotfryd, der von seinen Freunden Tolek genannt wird. „West-Berlin war ein Biotop.“ Viele Patienten wurden zu Freunden. 

Wir nennen uns beim Vornamen. Tolek erzählt heute viel in seinem schönen, gepflegten Deutsch, das noch verrät, dass es nicht seine Muttersprache ist. Wir sitzen bei einer Tasse Tee zusammen im Wohnzimmer, einem hellen Salon auf zwei Ebenen, dessen Fenster den Blick auf Dankas preisgekrönten Rosengarten lenken. Die Praxis, die Freundschaften, die Kunst, das ist im Leben der Gotfryds ein dichtes Geflecht. Eine elegante kinetische Stahlskulptur von George Rickey – Geschenk des Künstlers an seine Zahnärztin – bewegt sich in der Brise zwischen alten Bäumen. Um 1900 hat der preußische Architekt und Baubeamte Hermann Muthesius das Landhaus in Nikolassee, einem grünen Stadtteil im Süden Berlins, entworfen und selbst bewohnt. Nun lebt hier seit 45 Jahren die Familie Gotfryd. Der Sohn ist erwachsen und längst ausgezogen, aber immer noch leistet ein großer, gut erzogener Hund ihnen Gesellschaft. Die meisten Werke im Haus stammen von Freunden. Gegenüber den Bücherregalen hängt eine ganze Reihe von Elvira Bachs Bildern, im Esszimmer Malerei von Markus Lüpertz, und „von Eduardo Paolozzi, dem schottischen Erfinder der Pop-Art, habe ich eine Bronzeskulptur im Tischtennis gewonnen“, erzählt er. 

Tolek streicht über das aufgeschlagene Album. Schon auf der ersten Seite wird viel gelacht: Auf einem Foto strahlt Danka, Arm in Arm mit dem Fotografen Michael Ruetz und dem Anwalt Peter Pfefferkorn. Im Hintergrund taucht Joseph Beuys auf. „Der war aber nur einmal in Behandlung“, sagt Danka, „er gehörte nicht zu den regulären Patienten.“ Daneben ist ein Schwarz-Weiß-Foto eingeklebt, das Ruetz im Winter 1971 auf dem kahlen Feld vor dem Reichstagsgebäude gemacht hat. Der amerikanische Historiker Michael Cullen lacht in die Kamera und hält eine Skizze des verpackten Reichstags in den Händen. Tolek war an diesem Tag dabei und erinnert sich noch, wie sie sich bemühten, die Skizze und das Gebäude so zu fotografieren, dass sie auf dem Bild gleich groß erscheinen. Was Cullen, einer der ältesten Freunde der Gotfryds, mit der Verhüllung des Reichstags zu tun hatte? „Er war es, der Christo mit einer Postkarte aus Berlin zu dem Projekt überhaupt erst inspirierte“, erklärt Tolek. Keiner konnte damals ahnen, dass sie diese Vision jemals in die Tat umsetzen würden. Erst 1995, Jahre nach dem Fall der Mauer, konnten Christo und Jeanne-Claude den „Wrapped Reichstag“ verwirklichen.

Die Gotfryds, die sich beim Studium der Zahnmedizin in Breslau kennengelernt hatten, kamen 1958 aus Polen nach Berlin. Über seine Kindheit und Jugend hat Tolek ein erschütterndes und fesselndes Buch geschrieben: „Der Himmel in den Pfützen“. Es ist so etwas wie ein Wunder, dass er, der 1930 als Sohn jüdischer Eltern in einem polnischen Städtchen in Galizien in der heutigen Ukraine geboren wurde, den Krieg und die Verfolgung durch die Nazis überlebt hat. Jahrzehnte hat er darüber nicht gesprochen, aber die Geschichte dann aufgeschrieben: wie er den Einmarsch der Roten Armee und zwei Jahre später die Besetzung durch die Deutschen erlebte, wie er 1942 als Zwölfjähriger durch einen Sprung vom Güterwagen um Haaresbreite der Deportation in ein Vernichtungslager entging, wie er sich allein ohne seine Familie durchschlagen musste und als Teenager bis 1945 ständig auf der Flucht war. Trotz dieses Schicksals hat er das Buch ohne Bitterkeit geschrieben. Immer, meint er, habe sein Leben unter einem Glücksstern gestanden. Tolek ist ein lebensfroher Menschenfreund geblieben. 

Danka und Tolek Gotfryd strahlen beide eine so ungewöhnliche Herzlichkeit, so viel hintergründigen Witz und solche Neugier aus, dass man sich kein bisschen wundert, warum die Patienten sich zu ihnen hingezogen fühlten. (Es waren keineswegs nur die schmerzfreien Spritzen.) Bald wird unter dem Titel „Der Himmel über West-Berlin“ Toleks zweites Buch erscheinen, in dem er sein an Begegnungen und Reisen reiches Leben Revue passieren lässt. Darin spielt auch der einflussreiche Freundeskreis der Nationalgalerie eine wichtige Rolle, den es vor dem Krieg gegeben hatte, und der, so der Zahnarzt, durch Cullens Anregung 1977 wiederbelebt wurde. Auch der Anwalt Peter Raue gehörte zur kleinen Gruppe der Gründer. Die erste Sitzung des Vorstandes und Kuratoriums fand im Ferienhaus der Gotfryds auf Sylt statt. 

Mit dem Buch hat Tolek ein Anliegen: „Letztendlich sind wir auch Migranten. Jedes Land hat seine eigene Mythologie. Es gibt diese polnische nationale Manie, es gibt Trump, der in Amerika den Pioniergeist beschwört, und Frankreich mit der Grande Nation. Deutschland hat das nicht, es ist kein homogenes Land, es war nie ein großer Sieger. Die einzige starke Einheit für die Nation ist die deutsche Kultur. Sie ermöglichte mir, eine neue Identität zu finden.“

Er betrachtet eine Albumseite, auf der die Österreicherin Maria Lassnig sich mit offenem Mund gezeichnet hat, in dem sich ein weiterer offener Mund befindet. Zahnärzte, die Künstler behandeln, so Tolek, müssen vor allem gute Zuhörer sein, „weil Künstler hauptsächlich über sich selbst berichten“. Lassnig kam wie viele andere internationale Gotfryd-Patienten – Ben Vautier, James Lee Byars, Dorothy Iannone, Armando, Abramović, Rickey, Buren – mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Berlin. „Manchmal haben wir ‚Stein, Schere, Papier‘ darum gespielt, wer welchen Patienten nimmt“, erinnert sich Danka. Lassnigs Doppelporträt der Gotfryds auf gelbem Grund, das nebenan über einem Bett hängt, hat die Künstlerin 1976 als Honorar für ihre neuen Zähne gemalt. „Das Gemälde musste den umgekehrten Dorian-Gray-Weg durchlaufen“, sagt Tolek. „Erst jetzt, nach vierzig Jahren, sieht es uns ähnlich.“ Als genauso prophetisch erwies sich ein Porträt, auf dem Markus Lüpertz Tolek vor 35 Jahren in Anspielung an Cézannes spätes Selbstbildnis mit einem roten Ohr darstellte. Damals habe der Künstler ihn gewarnt: „‚Warte nur ab, ich bin ein böser Künstler.‘ Er hat meine Erscheinung im Alter treffend vorausgesehen.“

Lüpertz ist ein guter Freund, den Tolek auch als Schachspieler schätzt. »Viele Jahre lang kamen jeden Montagabend die Schachfreunde zu uns nach Hause. Wir redeten oft über Gott und die Welt, bis der neue Tag am Horizont dämmerte.« Neben Lüpertz, damals Rektor der Kunstakademie ­Düsseldorf, waren das regelmäßig der ungarische Schauspieler und Drehbuchautor George Tabori, der Schriftsteller Oswald Wiener, Werner Düttmann, Architekt Berliner Baudenkmäler wie der Akademie der Künste, der Agnes­kirche in Kreuzberg und des Brücke Museums, Michael Haerdter, Gründungsdirektor des Künstlerhauses Bethanien, und ­Boris Blacher, Präsident der Akademie der Künste. Eine Nacht hat sich Tolek besonders eingeprägt. Es war schon fünf Uhr morgens, als die angetrunkenen Freunde aufbrachen. Kurz zuvor gab es jedoch einen Einbruch in der Nachbarschaft, und nun wurde die verdächtige Gruppe von der Polizei aufgegriffen. Als sie allesamt zu Protokoll gaben, Hochschulprofessoren zu sein, glaubten die Beamten ihnen kein Wort. Erst musste die Familie Gotfryd aus dem Bett geklingelt werden. Schließlich zeigten alle ihre Ausweise – »und die Polizisten bekamen einen Lachanfall“.

„Künstler sind wie eine Prise Salz und Pfeffer“, sagt Tolek Gotfryd

Künstler seien nie langweilig, meint Tolek Gotfryd, aber sie seien verletzbarer als andere. „Hochsensibel durchschauen sie jeden falschen Ton. Es ist nicht leicht für sie in dem Geschäft dieser Welt, denn sie sind nicht wirklich ­robust“, heißt es im Manuskript von Toleks neuem Buch. „Sie sind wie eine Prise von Salz und Pfeffer. Sie verjagen die Eintönigkeit, und sie sind es vor allem, die diese Welt mit Licht versorgen.“

Service

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 128/2017

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