Deaccessioning

Ausverkauf der Museen?

Die Coronakrise hat vor allem den amerikanischen Museen wirtschaftlich schwer geschadet. Zum Ausweg wurde Deaccessioning: der Verkauf von Werken aus der Sammlung

Von Simone Sondermann
22.01.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 181

Großfürst Alexei Alexandrowitsch war der Lieblingsonkel des russischen Zaren Nikolaus II. und hatte eine Schwäche für die Bühne und die Frauen. Im Jahr 1903 schenkte er seiner Geliebten, der Schauspielerin und Tänzerin Elizabeth Balletta, eine außergewöhnlich kostbare Vase. Meister Michael Perchin aus der Fabergé-Werkstatt in Sankt Petersburg hatte sie aus einem großen Rauchquarz aus den Bergen des Ural geschnitten und auf einen Fuß aus zweifarbigem, 72-karätigem Gold montiert. Elizabeth Balletta nahm das zauberhaft klare Stück nach der Revolution mit ins Pariser Exil und präsentierte es in den 1930er-Jahren in einer Schau zu russischer Kunst in London. In den Fünfzigern gelangte die imperiale Vase, die mal als „das Schönste, was Fabergé je gefertigt hat“, galt, in die Sammlung der amerikanischen Mäzenin Helen Babbott Sanders. Diese vererbte sie später dem Brooklyn Museum. In New Yorks zweitgrößtem Museum, beheimatet in einem von russischen Ein­wanderern geprägten Stadtteil, erzählte sie seitdem gemeinsam mit vielen weiteren Objekten von der verlorenen Kultur des vorrevolutionären Russland.

Im Jahr 2020 entschied das Brooklyn Museum, die Vase zu verkaufen, und lieferte sie gemeinsam mit anderen hochwertigen Fabergé- und Vertu-Objekten bei Sotheby’s London ein. Dort erzielte sie Anfang Dezember 760 000 Pfund netto, mehr als das Dreifache der Taxe. Das Konvolut russischer Preziosen war nicht das erste, was das Brooklyn Museum im Krisenjahr 2020 veräußert hat. Den Auftakt machten zwölf Gemälde bei Christie’s im Oktober. Für Aufsehen sorgte „Lucretia“ von Lucas Cranach dem Älteren: Bei 4,2 Millionen Dollar fiel in New York der Hammer für den einst einzigen Cranach im Brooklyn Museum, der gemeinsam mit den anderen Bildern 6,6 Millionen Dollar in die leeren Kassen des Museum spülte.

Cranach Lucretia Brooklyn Museum
Lucas Cranachs „Lucretia“ aus dem Brooklyn Museum kam im Oktober 2020 für 4,2 Millionen Dollar unter den Hammer. © Christie’s Images Ltd. 2020

Dass Museen Werke ihrer Sammlung verkaufen, ist nichts Neues, doch die Pandemie hat vieles verändert. Deaccessioning, zu Deutsch etwa „Entsammeln“, ist schon seit vielen Jahren Gegenstand kontroverser Debatten. In den USA ist der Verkauf von Sammlungsbeständen gängige Praxis, zugleich waren ihm bislang enge Grenzen gesetzt. Das betont auch Bernhard Bischoff vom Schweizer Auktionshaus Galerie Kornfeld, das in den vergangenen drei Jahren vier Werke im Auftrag des New Yorker MoMA versteigert hat, zuletzt einen illustrierten Buchdruck von Sonia Delaunay-Terk, der im September einen Zuschlag von 120 000 Franken erzielte. „Deaccessions sind oft eine komplizierte Angelegenheit, da verschiedene Entscheidungsträger involviert sind. Meistens muss sogar der oberste Stiftungsrat zustimmen. Auch die vertraglichen Absprachen übersteigen diejenigen von Privaten bei Weitem“, erklärt der Auktionator.

Bis zum Jahr 2020 floss das Geld aus Museumsverkäufen vor allem in den Ankauf neuer Werke, zu diesem Zweck galten Verkäufe als akzeptiert. Doch die Coronakrise hat den amerikanischen Museen, die weit mehr von Eintrittsgeldern und Spenden­geldern abhängen als die europäischen, wirtschaftlich schwer geschadet. Das Flaggschiff Metropolitan Museum hat allein rund 400 Mitarbeiter entlassen müssen – da ist die Idee, dies durch gezielte Verkäufe abzufedern, geradezu naheliegend, wie auch Met-Direktor Max Hollein kürzlich in einem Interview deutlich machte. Der amerikanische Branchenverband AAMD, ein Zusammenschluss der Museumsleiter, hat reagiert und schon im April seine Richtlinien gelockert. Erlöse aus Verkäufen dürfen bis April 2022 nun auch für die Erhalt der bestehenden Sammlung, sprich den laufenden Betrieb genutzt werden.

Das Brooklyn Museum war eines der ersten Häuser, die diesen neuen Spielraum genutzt haben. Andere zogen nach, aber
der Prozess verlief nicht immer konfliktfrei. Auch das Baltimore Museum of Art wollte im Oktober drei Werke bei Sotheby’s verkaufen. Für Andy Warhols „Last Supper“ sowie je ein abstraktes Gemälde von Brice Marden und Clyfford Still erhoffte man sich zusammen um die 65 Millionen Dollar. Doch es hagelte Proteste aus dem Unterstützerkreis des Museums, der Verkauf würde Lücken in die Sammlung reißen, außerdem seien Kuratoren zurate gezogen worden, in deren Gehälter die Erlöse unter anderem fließen sollten. Als sich dann sogar die Künstler Amy Sherald und Adam Pendleton aus dem Kuratorium zurückzogen, stoppte das Museum den Verkauf quasi in letzter Minute. Außerhalb der USA, in Israel, gab es zur gleichen Zeit einen ähnlichen Aufschrei, als das Museum für islamische Kunst 190 Exponate bei Sotheby’s versteigern lassen wollte. Das Ganze wurde zum nationalen Politikum, Staatspräsident Reuven Rivlin schaltete sich ein und plädierte für den Verbleib der Objekte im Land. Museumsdirektor Nadim Sheiban betonte zwar, das Haus verfüge über weitere sehr ähnliche Exponate, und verwies auf den finanziellen Schaden durch die Coronakrise, aber der Verkauf wurde bis auf Weiteres ausgesetzt.

Doch abgesehen von diesen Beispielen haben sich in den USA im Jahr 2020 viele Museen mehr oder weniger geräuschlos von Werken ihrer Sammlung getrennt. Ob dies zur finanziellen Rettung aller Häuser ausreichen wird, ist offen. In Deutschland ist ein solches Vorgehen derzeit nicht vorstellbar. Als das chronisch klamme Lehmbruck Museum in Duisburg vor einigen Jahren Alberto Giacomettis Skulptur „Das Bein“ verkaufen wollte, sollte dies lediglich dem Ankauf eines anderen Werks des Künstlers dienen und wurde nach Negativschlagzeilen über „heikle Verkaufspläne“ am Ende doch verworfen. In seinem „Leitfaden zum Sammeln und Abgeben von Museumsgut“ spricht sich der Deutsche Museumsverband klar gegen den Verkauf von Sammlungsbeständen „aus finanziellen Interessen“ aus. Was die Kunst in ihren Depots betrifft, müssen die deutschen Museen nicht wirtschaftlich denken. Noch nicht.

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