Mugshots sammeln

Das Auge des Gesetzes

Aus Polizeiarchiven auf den Kunstmarkt: Ab und an finden historische Porträtfotos vermeintlicher Delinquenten ihren Weg in den Handel. Mugshots sind in eine obskure Kulturgeschichte eingegangen – und wurden ein ganz spezielles Sammelgebiet

Von Lisa Zeitz
15.10.2020
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 176

„Mugshots“ heißen in den USA die Porträts, mit denen die Polizei ihre Festnahmen do­kumentiert. Von vorn, von der Seite, mit Nummer versehen. Es ist ein peinlicher, ja manchmal schrecklicher Moment für die Porträtierten, auf diese Weise erfasst, registriert und verewigt zu werden.

Manchmal jedoch wirkt ihr Blick trotzig, so beim 22-jährigen Frank Sinatra, der 1938 in New Jersey wegen „Verführung“ einer älteren verheirateten Frau verhaftet wurde. Insgesamt verbrachte der spätere Weltstar nur wenige Stunden im Gefängnis, er war bald gegen Kaution wieder frei. Auf einer Memorabilia-Auktion bei Christie’s 1999 kam das Bild für 3680 Dollar auf dem Kunstmarkt unter den Hammer – und soll von seiner jüngsten Tochter Tina ersteigert worden sein.

Auch von David Bowie gibt es solche Polizeifotos, die nach einem Konzert 1976 mitten in der Nacht aufgenommen wurden: Er, Iggy Pop und zwei andere waren mit einem halben Pfund Marihuana erwischt worden, aber auch sie waren nach drei Stunden gegen 2000 Dollar Kaution wieder auf freiem Fuß. Das mittlerweile berühmte Schwarz-Weiß-Foto, auf dem der junge Sänger in Hemd und Jackett engelsgleich in die Kamera blickt und dabei die Nummer 59640 der Polizeistation Rochester, New York, in die Höhe hält, tauchte erst dreißig Jahre später im Nachlass eines verstorbenen Polizisten auf und wurde bei Ebay für rund 2700 Dollar versteigert. Es heißt übrigens, Bowie habe sich darüber gefreut.

Mugshots Album Grisebach
Ein Album aus San Francisco mit Mugshots aus dem Jahr 1921 wurde bei Grisebach in Berlin für 12 500 Euro versteigert. © Grisebach GmbH

Zwanzig Jahre nach David Bowie wurde der Schauspieler Hugh Grant verhaftet, und sein Bild ging um die Welt. Ein Jahr nachdem er mit seiner liebenswerten Rolle in „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ berühmt wurde, griffen ihn Polizisten in Los Angeles mit der Prostituierten Divine Brown auf. Wie bei Frank Sinatra war Sex im Spiel, auch er wurde erwischt, bloßgestellt, und ein verbotenes intimes Treffen endete mit dem Blitzlicht der Polizei, in seinem Fall mit maximaler Öffentlichkeit. Der Betrachter des Porträts wird zum Voyeur – und kann sich den verbotenen Akt genüsslich ausmalen. Für Sammler von „Mugshots“ spielt der erotische Aspekt wahrscheinlich immer eine Rolle, auch wenn ganz andere Taten der Verhaftung zugrunde liegen – zu eindeutig sind die Machtverhältnisse, zu klar ist das Narrativ von Vergehen und Strafe.

Im großartigen Katalog seiner riesigen Sammlung, die 2006 in der Steven Kasher Gallery in New York ausgestellt war, erklärt der Grafikdesigner Mark Michaelson, wie seine Faszination begonnen hat. Zum Geburtstag schenkte ihm ein Freund ein authentisches Fahndungsplakat mit dem Bild der Millionärstochter Patty Hearst, die sich 1974 mit ihren Kidnappern verbündet hatte und wegen verschiedener Verbrechen gesucht wurde. Kurz darauf stieß Michaelson auf seinen ersten richtigen Mugshot – das Dreißigerjahrefoto eines Mannes aus Minneapolis mit dem Vermerk „hatte zwei Paar Hosen in seinem Besitz, die er nicht erklären konnte“.

Es war der Beginn seiner Sammlung. „It was an amazing object“, schreibt Michaelson. „A ready-made. Vernacular and Pop.“ Berühmte Leute interessieren ihn wenig. Er hat mit seiner Kollektion ein Herz für die Kleinkriminellen, Transvestiten und Kommunisten, Zuhälter und Junkies. Besonders gewaltsame Verbrechen vermeidet er.

Mugshot Auktion Swann Galleries
Die Aufnahme von Francis J. Powers war Teil eines Konvoluts, das im Oktober 2019 bei Swann Galleries in New York einen Hammerpreis von 2000 Dollar erzielte. © Swann Auction Galleries

Kenner von Mugshots wissen, wie diese Art der Fotografie ihren Anfang nahm. An Alphonse Bertillon kommt man nicht vorbei: Das Metropolitan Museum of Art in New York besitzt Hunderte seiner Polizeifotos vom Ende des 19. Jahrhunderts. Bertillon stammte aus einer renommierten Familie französischer Wissenschaftler und fing 1879 als Verwaltungsangestellter in der Pariser ­Polizeipräfektur an. Er wurde mit der Verbrecherkartei betraut und entwickelte das erste moderne System zur Identifikation von Kriminellen – sein System, das als „Bertillonage“ in die Geschichte einging, stützte sich auf drei Komponenten: die anthropometrische Vermessung, eine genaue wörtliche Beschreibung der physischen Merkmale und ein standardisiertes Foto. Nach einer Welle von Bombenanschlägen und Attentaten in Paris konnte im März 1892 dank seines ­Systems der anarchistische Bombenleger ­Ravachol verhaftet werden – Bertillon wurde in Paris gefeiert, in die Ehrenlegion aufgenommen und sein anthropometrisches System weltweit adoptiert. Das Museum verwahrt Hunderte seiner Polizeifotografien von vermeintlichen Anarchisten vom Ende des 19. Jahrhunderts: „Dumont. Henri, Victor. 29 Jahre alt, geboren in Issy (Seine). Mechaniker. Anarchist.“ Die meisten sind Männer, aber auch Frauen, aus allen Bürgerschichten, eine ganze anarchistische Ahnengalerie, die Bertillon nüchtern ­ablichtete.

Knapp zwei Generationen später entstand der Inhalt einer kleinen Schublade, ebenfalls im Besitz des Metropolitan Museum, die erst vor wenigen Jahren in die Sammlung einging: 46 Karteikarten mit den Bildnissen von Taschendiebinnen, die in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in Baltimore gefasst wurden: „ungeschönte Porträts von ­Individuen, deren Gesichter eine potente Mischung aus Verletzlichkeit, Langeweile und Trotz an den Tag legen“, heißt es im Onlinekatalog des Museums.

Mugshot Boston Auktion Swann
Dieser Mann wurde am 15. November 1945 von der Boston Police verhaftet. Sein „Mugshot“ wurde 2019 bei Swann als Teil eines Konvoluts für 2500 Dollar inklusive Aufgeld versteigert. © Swann Auction Galleries

Auf Fotografie spezialisierte Händler und Auktionshäuser haben ab und zu auch Mugshots im Angebot. Bei Swann Galleries in New York wurde kürzlich eine Gruppe von 570 kleinen Schwarz-Weiß-Fotografien, aufgenommen Mitte des 20. Jahrhunderts in Massachusetts und Rhode Island „mit überproportionalem Anteil von bad boys und Teenagern“, zur oberen Schätzung von 2500 Dollar zugeschlagen. Ein Mugshot-Album mit 2270 seitlich und frontal aufgenommenen Porträts aus der Zeit der Prohibition aus Phoenix, Arizona, wechselte für einen Hammerpreis von 7500 Dollar den Besitzer. Im selben Haus brachten zwei Fotografien der russisch-amerikanischen Anarchistin, Friedensaktivistin und Feministin Emma Goldman, die zirka 1901 kritisch, aber selbstbewusst in die Kamera schaut, 2500 Dollar ein.

 

Emma Goldman Mugshot Auktion Swann Galleries
Emma Goldman war eine in den Vereinigten Staaten und Europa aktive Anarchistin und Friedensaktivistin. Die beiden Silbergelatineprints, um 1901, wurden bei Swann 2015 für 2500 Dollar inklusive Aufgeld verkauft. © Swann Auction Galleries

Ein dickes Album des San Francisco Police Department landete auf der anderen Seite des Globus: Es spielte vor fünf Jahren bei der Fotografieauktion von Grisebach in Berlin inklusive Aufgeld 12 500 Euro ein. Die rund 700 Silbergelatine-Vintages aus dem Jahr 1921 zeigen eine vielgesichtige Gesellschaft quasi von unten.

Eine besondere Faszination für diese Art von Bildern hegte auch Andy Warhol. 1964 schuf er seine Siebdruck-Serie der „Thirteen Most Wanted Men“ nach amerikanischen Polizeifotos der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Später hätte der Künstler, mittlerweile wohlhabend, sogar fast einmal ein Gefängnis gekauft. Er trat aber von dem Kauf zurück, weil es, wie er sagte, „ohne ­Gefangene verkauft worden wäre“.

In Kathrin Hankes neuem Buch „Hamburgs dunkle Seiten“ (Gmeiner-Verlag) sind Polizeifotos aus den Jahren 1890 bis 1930 versammelt – ein gruseliges Panorama mit Porträts von Verbrechern und Verbrecherinnen, Tatort- und Opferaufnahmen. Die Beschreibungen neben den Gesichtern sind grausig. So steht unter dem Bild eines hübschen ­jungen Mannes mit feschem Hut und Schnurrbart: „Der Lumpenhändler Theodor W. ermordete am 12. August 1903 den Lotteriekollekteur L. in dessen Wohnung.“ Und neben dem Bild einer verhärmten Frau mit Mittelscheitel und eingezogenen Schultern von 1899: „Elisabeth W., die sogenannte Engelmacherin von St. Pauli, war der Polizei bereits vor ihren mutmaßlichen Kindermorden bekannt.“ Die Fotos der Täter markieren wohl jeweils das Ende ihrer Karriere.

Mugshots Album Grisebach
Ein Album aus San Francisco mit Mugshots aus dem Jahr 1921 wurde bei Grisebach in Berlin für 12 500 Euro versteigert. © Grisebach GmbH

Ein Fall aber ist bekannt, bei dem ein „Mugshot“ zum Beginn einer Karriere wurde: Nachdem die Polizei ein Foto des schönen, tätowierten, blauäugigen Gangsters ­Jeremy Ray Meeks auf Facebook gepostet hatte, flatterten die Angebote herein. 2016 hatte der „Hot Felon“ seine zweijährige Haftstrafe wegen Waffenbesitz und Diebstahl in Kalifornien abgesessen, wurde Model und hatte sein Laufstegdebüt schon kurze Zeit später auf der New York Fashion Week. 

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