Worpswede

Atelier oder Abendbrot

Vier Ausstellungen in den Worpsweder Museen zeigen, wie schwierig es für Künstlerinnen um 1900 war, zwischen Karriere und Familie zu balancieren

Von Tim Ackermann
05.09.2025
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 245

Aus einer Sommerlaune heraus betreten die zwei jungen Künstlerinnen die Kirche in Worpswede. Und da sie leer ist, ergreifen Paula und Clara die herabbaumelnden Glockenstränge und beginnen ein großes Läuten. Die beiden tragen weiße Kleider und modische Schnürstiefel, ihre langen Haare wehen, während sie an den Seilen schwingen und dabei glücklich jauchzen. So fröhlich wurde die oft erzählte Anekdote jüngst bei der Eröffnung des Ausstellungsreigens „Paula Modersohn-Becker und ihre Weggefährtinnen“ in der Zionskirche auf dem Weyerberg von Schauspielerinnen nachgestellt. Man ahnt es: Den 150. Geburtstag von Paula Modersohn-Becker im kommenden Frühjahr wird man als Heldinnenerzählung feiern. Dabei war das Ringen dieser Malerin um Anerkennung während ihres kurzen Lebens sehr mühsam. Daran erinnert uns die aktuelle Worpsweder Ausstellungssaison, die sich der Frage widmet: Was bedeutet es, Frau und Künstlerin zu sein? Um 1900 – in einer niedersächsischen Künstlerkolonie und in der Welt?

Die erste Station im Barkenhoff mit dem Untertitel „Verwandte Seelen“ zeigt die Freundschaft zwischen Paula Modersohn-Becker und Clara Rilke-Westhoff. 1898 lernen sich die 22-Jährige und die 19-Jährige im Zeichenunterricht von Fritz Mackensen kennen. Sie blicken ähnlich auf ihre Mitmenschen und arbeiten nicht objektiv-naturalistisch, sondern schonungslos subjektiv. Bei Modersohn-Becker sieht man das in Bildern wie „Elsbeth auf einem Bauernstuhl“ (um 1900): Das Gesicht des kleinen Mädchens ist verschwommen gemalt. Im scheuen Blick und der ungelenken Haltung wird die ganze Verletzlichkeit der Kinderseele offenbar. Ebenso empathisch arbeitet Clara Rilke-Westhoff die entscheidenden Charakterzüge ihrer Gegenüber in den Skulpturen heraus. Die Schriftstellerin Ricarda Huch lehnt allerdings 1912 ihre Porträtbüste empört ab. Beim Blick auf die dicken bronzenen Stirnfalten will man ihr das nicht verübeln. Paula und Clara jedenfalls schließen sich der Worpsweder Künstlergemeinschaft auf dem Barkenhoff an, wo sie dem Maler Otto Modersohn und dem Dichter Rainer Maria Rilke begegnen. Im Jahr 1901 heiraten beide Künstlerinnen und begeben sich in neue Rollen als Ehefrauen.

Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis als stehender Akt“ aus dem Jahr 1906
Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis als stehender Akt“ aus dem Jahr 1906 © Elke Estel/Hans-Peter Klut/Albertinum/Staatliche Kunstsammlung Dresden

Inhaltlich komplex, aber sehr spannend schließt sich thematisch die aktuelle Ausstellung in der Großen Kunstschau mit dem Titel „Zukünftiges Schaffen“ an. Neben einigen gegenwärtigen Positionen präsentiert sie überwiegend Bilder von Künstlerinnen des Fin de Siècle und des frühen 20. Jahrhunderts. Offen angesprochen werden die gesellschaftlichen Zwänge, die einer einfachen Karriere meist entgegenstanden. Die Malerin Sabine Lepsius etwa finanzierte mit ihren Porträtbildern das Leben ihrer Familie. Ein Geheimnis, da ihr Mann, der Maler Reinhold Lepsius, darauf bestand, nach außen als der Brotverdiener aufzutreten. Seine Frau warf ihm vor: „Warum bist du nicht mein Geliebter und meine vier Kinder unehelich – dann wäre ich jetzt eine große und glückliche Künstlerin.“ Ihre gefühlvolle Kopfstudie von einer Freundin, der Malerin Mathilde Vollmoeller-Purrmann (um 1900), ist als Beleg ausgestellt. Die Freundin dankte es wenig und lästerte in einen Brief an ihren Mann, den Maler Hans Purrmann, über die schlecht erzogenen Lepsius-Kinder – denn sie selbst hatte die Malerei zum Wohle ihres Nachwuchses zurückgestellt, obwohl ihr stimmungsvoll-expressive Bilder wie die „Südliche Landschaft, Ajaccio“ (1922) gelangen.

Das Balancieren zwischen den Rollen war nachvollziehbar schwer für die Frauen: Paula Modersohn-Becker, die sich 1897 noch echauffierte, dass die emanzipierte Malerin Julie Wolfthorn, die in Paris studiert hatte, demonstrativ in Hosen herumlief, sitzt fünf Jahre später in der Küche beim Kalbsbraten, spürt die Enge der Ehe und träumt sich zurück in ihrer eigenes produktives Studium in Paris im Frühjahr 1900. In Worpswede hat sie danach für die deutsche Malerei die Tür der Moderne geöffnet. Ein gewaltiger Erfolg. Doch wissen wir nicht, wie ihr Leben als Künstlerin, Ehefrau und Mutter weiter verlaufen wäre. Sie stirbt 1907 kurz nach der Geburt ihrer Tochter an einer Embolie.

Noch zwei weitere Schauen erzählen von emanzipierten Frauen: In der Worpsweder Kunsthalle erfährt man alles über die Malerin Ottilie Reylaender, die ab 1898 in Worpswede lernte, dann in Paris studierte und später aus 17 Jahren Mexiko-Aufenthalt farbenfrohe Bilder mitbrachte. Und das Haus im Schluh stellt Martha Vogeler als selbstbewusste Geschäftsfrau vor, die ihre unglückliche Ehe mit dem Maler Heinrich Vogeler für eine neue Liebe verließ. Sie baute eine Werkstatt für Kunsthandwerk auf, die ihr und ihren Töchtern ein unabhängiges Leben ermöglichte. Ein feministisches Musterbeispiel in diesem Dorf der Künstlerinnen.

Service

Ausstellung

„Paula Modersohn-Becker und ihre Weggefährtinnen“

Worpsweder Museen

bis 18. Januar 2026

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