Als in Florenz die Renaissance entstand, wurde Fra Angelico vom Kloster aus der Mitbegründer einer neuen Malerei. Jetzt versammeln zwei Ausstellungen so viele seiner Bilder wie noch nie
ShareMaria schaut ein bisschen ängstlich auf den Überraschungsgast mit den bunt schillernden Flügeln. Doch der Erzengel Gabriel blickt sie warmherzig an. »Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden«, sagt er und kündigt ihr an, dass sie, die Jungfrau, einen Sohn gebären wird, den sie Jesus nennen soll: der Sohn Gottes, empfangen durch den heiligen Geist, der über Marias Kopf schemenhaft zu erkennen ist. Die Verkündigung wurde im Laufe von 2000 Jahren christlicher Kunst so oft dargestellt, dass niemand die Bilder zählen kann. Aber keines von ihnen berührt so sehr wie das Fresko, das der Künstlermönch Fra Angelico im Dormitorium von San Marco in Florenz um 1443 malte. Einfühlsam schildert er die menschliche Reaktion auf die göttliche Botschaft. Marias Augen und ihr demütig nach vorn gebeugter Körper zeigen, was in ihr vorgeht. Aber auch der Erzengel ist von der Bedeutung seiner Botschaft erfasst. Er verneigt sich vor der künftigen Muttergottes und Himmelskönigin und ist wie diese leicht errötet von diesem intensiven Moment, der alles auf der Welt verändern wird.
In die Zwiesprache der beiden kann man sich lange versenken – genauso wie es die Dominikanermönche damals taten und dabei die Inschrift zwischen den Säulen als Aufforderung zum Beten des »Ave Maria« angesichts des Bildes begriffen: „Gegrüßest seiest du, o Mutter der Gnade, erhabener Sitz der Heiligen Dreifaltigkeit.“ Und dann der künstlerische Gehalt jenseits der religiösen Bedeutung: Die empfindsame Veranschaulichung der Handlung, die Interaktion der beiden Figuren, ihr menschlicher Ausdruck, die Säulenloggia, die sich auf Filippo Brunelleschi und seine geometrisch klaren Wiederaufgriffe der spätantiken Säulenbasilika bezieht – Angelicos Verkündigung ist eines der schönsten und innovativsten Gemälde der Umbruchszeit, die der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt mit der Formel „die Entdeckung der Welt und des Menschen“ auf den Punkt brachte.
Was einst Kloster und Rückzugsort der Mönche war, ist heute Pilgerstätte der Kunst. Wer sich vorgenommen hat, die wichtigsten Werke der Frührenaissance in Florenz aufzusuchen und nachzuvollziehen, wie in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein neues Menschenbild in der Skulptur und der Malerei entstand, wie sich die Natur in den Bildern verlebendigte, wie körperliche Sinnlichkeit und Emotionen zum Thema wurden, wie mithilfe der Perspektive und Architekturdarstellungen eine zuvor nicht da gewesene Tiefenräumlichkeit in den Bildern erreicht wurde, kurz: Wer sehen will, wie nach 1400 eine neue Kunst entstand, die von Florenz aus ganz Europa erfassen sollte, wird zwangsläufig irgendwann in San Marco landen. Denn der ehemalige Dominikanerkonvent, seit 1869 Museum, beherbergt einen der kostbarsten Schätze der Stadt: rund 50 Fresken und 20 Tafelbilder von Fra Angelico, der neben dem Architekten Brunelleschi, den Bildhauern Lorenzo Ghiberti und Donatello sowie dem Maler Masaccio zur ersten und maßgeblich prägenden Generation des kreativen Urknalls in Florenz gehörte.
Angenehmerweise ist das Museo di San Marco immer noch eine Oase in der Stadt, abseits der Besuchermassen im Dom, in den Uffizien, im Palazzo Pitti, in der Accademia, in San Lorenzo oder Santa Maria Novella. So kann man sich in klösterlicher Ruhe in die Bildwelt Fra Angelicos vertiefen. Doch ab Ende September wird es auch hier belebter sein, denn dann feiert Florenz seinen Malermönch mit einer Sensationsausstellung. Der Palazzo Strozzi, das erfolgreichste Ausstellunghaus Italiens, hat sich dafür mit dem Museo di San Marco zusammengetan, das den größten Werkkomplex besitzt, ohne den Fra Angelico nicht zu begreifen ist. Er verewigte sich hier mit dem Hauptaltar der Kirche (heute museal präsentiert), die Bibliothek besitzt von ihm illustrierte Handschriften, und wohl ab 1440 lebte der Dominikaner für einige Jahre im Kloster, als er die Fresken in der Klausur und den Mönchszellen malte. So wird seine Wirkungsstätte zum integralen Teil der Schau, die sich auf beide Orte aufteilt und rund 130 Werke von 60 Leihgebern versammelt, die einzigartigen Wandbilder in San Marco nicht mitgerechnet.
Die Vorbereitungen laufen seit Jahren. Unter der Leitung des amerikanischen Kunsthistorikers und Fra-Angelico-Spezialisten Carl Brandon Strehlke, der die Ausstellung mit zwei italienischen Kollegen kuratiert, wurde im Vorfeld viel geforscht. Insbesondere ging es um die Rekonstruktion der Altäre, deren erzählerische Szenen in der unteren Zone (der Predella) sowie die seitlichen Heiligentafeln meist im 19. Jahrhundert von den Hauptbildern getrennt wurden und sich über den Kunstmarkt in alle Welt verteilten. Die kleinen Predellenbilder sind überhaupt ein großer Schatz, denn in ihnen fährt Fra Angelico seine Meisterschaft der Narration auf. Gewalttätige Dramen spielen sich ab, aber auch zarte Gefühle, dabei viele alltägliche Beobachtungen seiner Gegenwart, die er in das christliche Geschehen einbettet.
Das Konzept der Wiedervereinigung nach so langer Zeit überzeugte die meisten Museumskollegen in Europa und Amerika, sodass es zu erstaunlichen Leihzusagen kam. Wissenschaftliche Erkenntnis ist immer ein Argument, schließlich profitieren auch die Besitzerinnen und Besitzer der anreisenden Werke davon. So ließ sich mithilfe von Röntgendurchleuchtung oder der Untersuchung der Holzmaserungen in mehreren Fällen erstmals die genaue Abfolge der Predellen- und seitlichen Pilasterbilder bestimmen. Arturo Galansino, der Direktor des Palazzo Strozzi, der sonst vor allem mit Gegenwartskunst für Aufsehen und Besucherandrang sorgt, ist stolz darauf, dass mithilfe von Sponsorengeldern zwanzig Altartafeln in italienischen Sammlungen und Kirchen für die Ausstellung aufwendig restauriert wurden. „Bei den Altmeisterausstellungen zur Florentiner Kunst, die wir alle zwei bis drei Jahren realisieren, soll etwas für die Zukunft bleiben“, betont Galansino am Telefon.
So strahlen jetzt etwa bei der „Kreuzabnahme Christi“ auf dem Strozzi-Altar die blauen, roten und rosafarbenen Gewänder der Anwesenden auf dem Berg Golgatha noch mehr als zuvor in all in ihren feinen Nuancen, erweisen sich die Gesichter des Johannes oder der Magdalena, die dem toten Gottessohn die Füße küsst, als so hauchzart gemalt und mit einem Tupfer Rouge versehen, dass es die reine Freude ist. Alles erscheint kostbar, wie immer auf Fra Angelicos großen Altarbildern: die akribisch dargestellten Pflanzen, im Hintergrund das fast schon modern stilisierte Jerusalem mit einem Tempel wie aus einem Fantasyfilm, darüber das satt strahlende Azurblau des Himmels über einer weit nach hinten führenden Toskanalandschaft. Das Licht, die seidig schimmernden Farben, die weichen Gesichter, die einfühlsam und voller Empathie dargestellten Szenen aus der Bibel und den Heiligenviten haben schon Angelicos Zeitgenossen begeistert. Kein Wunder, denn welch ein Unterschied boten seine individuell gestalteten Menschen, ihre emotionale Gestik und der Ausdruck der Gesichter zur Florentiner Spätgotik, die bei der Entstehung der „Pala Strozzi“ um 1430 noch überall in der Stadt präsent war.
Wer war dieser malende Dominikanermönch, der gar nicht so zurückgezogen lebte und sich nicht so ausschließlich in die göttlichen Heilsbotschaften versenkte, wie es ihm immer angedichtet wurde? Denn nicht nur der damalige Prior von San Marco, der seinem Ordensbruder „äußerste Bescheidenheit und frömmsten Lebenswandel“ bescheinigte, rühmte ihn als „größten Meister italienischer Malkunst“. Er war allseits bewundert, in Florenz, in Cortona, Perugia und Rom, überall wollte man Altar- und Wandbilder von ihm. Zwangsläufig musste Angelico dafür sein Kloster oft verlassen und ein öffentliches Leben führen. Zudem zeigen seine Werke, dass er in der Stadt viel unterwegs war, sich alle wichtigen Maler und neuen Strömungen genau anschaute.
Sein Talent wurde schon früh erkannt, als er noch den Geburtsnamen Guido di Piero trug. Um 1395 kam er in Vicchio zur Welt, einem Städtchen im bergigen Mugello nordöstlich von Florenz. Wohl um 1410/12 kam er nach Florenz zur Ausbildung als Maler. Vieles spricht dafür, dass Lorenzo Monaco (ein malender Mönch, wie es Guido später werden sollte) sein Lehrmeister war. Zudem scheint er auch die Buchmalerei erlernt zu haben, was erhaltene Handschriften mit Miniaturen von ihm bezeugen – und in der Renaissancehalle der Bibliothek von San Marco ein eigenes Thema in der Ausstellung sein wird. Im Oktober 1417 taucht Guido erstmals in einem Dokument auf. Da arbeitete er schon als professioneller Maler, und ein Kollege empfahl ihn zur Aufnahme als Laienbruder in eine Büßergemeinschaft, die für ihre strengen Regeln bis hin zu wöchentlichen Selbstgeißelungen bekannt war. Ein Jahr später entlohnte eine Florentiner Kirche Guido für ein nicht mehr erhaltenes Altarbild, 1419 malte er (ebenfalls verlorene) Wandbilder in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella. In dieser Zeit führte ihn seine tiefe Frömmigkeit zu dem Entschluss, sein ganzes Leben Gott zu widmen und Mönch zu werden. Um 1420 schloss er sich dem Konvent San Domenico in Fiesole bei Florenz an, der der strengen Richtung der Observanten angehörte und die Regeln des Bettel- und Predigerordens besonders rigide befolgte: Armut, Askese, Tag und Nacht Kontemplation und Gebet, unaufhörliches Studium der heiligen Schriften, um sich auf das Predigen und die Mission vorzubereiten.
Aus Guido di Piero wurde mit dem Eintritt ins Kloster Bruder Johannes: Fra Giovanni da Fiesole, so taucht er fortan bis zu seinem Tod 1455 in den Schriftquellen auf. Zu Lebzeiten hochverehrt, vom kunstsinnigen Cosimo de’ Medici (ohne Amt, aber doch der wahre Machthaber in Florenz) sowie von zwei Päpsten mit prominenten Aufträgen bedacht, wurde Fra Giovanni bald nach seinem Tod wegen seines gottgefälligen Lebenswandels und der frommen Schönheit seiner Bildern als „angelico“ (engelsgleich) bezeichnet. Giorgio Vasari, der Künstlerbiograf der Renaissance, der Fra Giovanni da Fiesole hundert Jahre nach dessen Tod zum Musterbild eines frommen Malers erhob, seine Malerei als vorbildhaft für alle religiöse Kunst rühmte, nannte ihn veramente angelico, wirklich engelsgleich, und trug wesentlich dazu bei, dass sich dieses Prädikat der Verehrung als sein Künstlername durchsetzte. Dass er Mönch war, prägt die Rezeption bis heute, darum hat sich „Fra Angelico“ allgemein durchgesetzt. Der heute etwas altertümlich anmutende, früher häufig benutzte Name „Beato Angelico“ (Seliger Engelsgleicher) hat sicher dazu beigetragen, dass Papst Johannes Paul II. den Maler 1982 seligsprach und zum Patron der Künstler erhob.
Ghibertis Bronzereliefs an der Tür des Dombaptisteriums, Donatellos antikische, mit aufregender Körperlichkeit versehenen Statuen, Brunelleschis grazile Säulenarchitektur: Florenz war um 1420 ein künstlerischer Hexenkessel voller Innovationen. Nur in der Malerei herrschte noch die Spätgotik vor, seit einem Jahrhundert im Bann von Giottos Errungenschaften stehend – und auch verharrend. Der junge Fra Angelico, damals noch Guido, arbeitete an einer Kreuzigung auf Goldgrund. Den übernimmt er vom traditionellen Stil, genauso wie die bunten, weich fallenden Gewänder und die enge, gleichförmige Staffelung. Aber die Gesichter sind naturalistischer und auf ganz eigene Weise modelliert, ihre Züge deuten schon individuelle Befindlichkeit an, ebenso die Gesten und Körperhaltungen.
Sein Noviziat in San Domenico in Fiesole war spätestens 1423 beendet, nun konnte er für den Konvent seinen ersten Großauftrag ausführen: die Ausstattung der Kirche mit drei neuen Altären. Was folgte, war ein künstlerischer Ausbruch, der sich von Werk zu Werk steigerte. Mittlerweile war Gentile da Fabriano aus Norditalien nach Florenz gekommen und schlug alle in Bann mit einer virtuosen Bildregie von Menschenmassen, die in täuschend echt gemalte Luxusgewänder gehüllt sind. Zur gleichen Zeit trat der junge Masaccio auf den Plan, der nach den Innovationen von Ghiberti, Donatello und Brunelleschi nun die Malerei grundlegend veränderte. Wie auf einer geräumigen Theaterbühne ließ er im Freskenzyklus von Santa Maria del Carmine die biblischen Gestalten miteinander kommunizieren. Sie standen für einen neuen Menschentypus, dem er Charakter und Seele einhauchte. Beide Maler beeinflussten Fra Angelico in diesen Jahren maßgeblich.
Beim Hochaltar in Fiesole, der in der Ausstellung zu sehen sein wird, setzte er zum ersten Mal die von Brunelleschi entwickelte Zentralperspektive ein, er verkürzte so die gemalten Bodenfliesen nach hinten und unterstützte damit die tiefenräumliche Gruppierung der Engel, die der zentralen Muttergottes huldigen. Für den Verkündigungsaltar, der im Prado bleiben muss, platzierte er, wie zwanzig Jahre später in San Marco, die Zwiesprache von Maria und Erzengel in eine Renaissance-Loggia neben einem Garten. Noch ist der gotische Figurenschwung erkennbar, auch die Stilisierung der Gesten und Gesichter. Aber schon bei der „Marienkrönung“ in San Domenico (auch sie zu fragil, um aus dem Louvre anzureisen) schlägt er einen ganz anderen Ton an. In feierlicher Würde umstehen Scharen von Heiligen, weltlichen und kirchlichen Magnaten sowie musizierenden Engeln – alle in kostbaren, golddurchwirkten Kleidern – den Thronbaldachin auf einer Treppenkonstruktion, wo Christus seine Mutter zur Himmelskönigin erhebt. Das ganze Gemälde leuchtet in Blau, Rot, Rosa, Grün und Gold; überall funkelt und schimmert es, während die jetzt typisch rundlichen, weichen Gesichter zu einer Atmosphäre sanfter Herrlichkeit beitragen. Wie alle Dominikaner war Angelico von tiefer Marienverehrung erfüllt, und wenn es um die Vermittlung der göttlichen Botschaft ging, zog er alle Register, um die Betrachtenden in eine überirdische Atmosphäre zu ziehen. Frömmigkeit und eine geradezu radikal auf die Spitze getriebene Schönheit gehörten für ihn zusammen.
Als Gentile da Fabriano 1426 Florenz verließ und Masaccio zwei Jahre später starb, wurde Fra Angelico als einzig verbliebener Erneuerer zum erfolgreichsten und berühmtesten Maler der Stadt. Seine einfühlsamen Bilder sind nun so charakteristisch und in ihrer Qualität herausragend, dass man den Stil des Künstlermönchs auch ohne Expertenwissen erkennen kann. Ein Auftrag folgte auf den anderen, und alle Erlöse flossen vollständig an das Kloster San Domenico, dessen Prior Fra Angelico auch einige Jahre war. „Des Öfteren pflegt er zu sagen, dass man für die Ausübung dieser Kunst ein ruhiges und sorgenfreies Leben führen müsse und dass, wer Christusdarstellungen ausführen wolle, immer auch in Christus leben müsse“, überliefert Vasari. Zudem habe er „niemals die Pinsel angerührt, ohne vorher zu beten, dass jedes Mal, wenn er ein Kruzifix malte, Tränen seine Wangen benetzten“.
Ob man Vasaris Anekdoten Glauben schenkt oder nicht: Die tief empfundene Empathie für das Leiden Christi und die Schicksale der Heiligen, die Fra Angelico mit allen Mitteln der neuen Malerei anschaulich machte, ist ein wesentlicher Grund, weshalb auch heutige säkulare Geister vom Zauber dieser Bilder erfasst werden.
„Fra Angelico“, Palazzo Strozzi und
Museo di San Marco, Florenz,
26. September bis 25. Januar 2026