Die niederländische Fotokünstlerin Rineke Dijkstra schafft beeindruckende Bilderserien und Videoarbeiten, die in ihrer Authentizität das Genre des Porträts neu interpretieren. Große Ausstellungen in Berlin und Frankfurt am Main stellen nun ihr Werk umfassend vor
Von
13.01.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 235
Mit ihrer 4×5-Zoll-Großformat-Plattenkamera porträtiert Dijkstra Personen rund um den Globus. Sie sucht dabei, sagt sie, nach dem Kern des menschlichen Seins. Auffällig an ihren Bildern ist die Detailtreue, die das große Format mit sich bringt, und der langwierige Prozess der Herstellung. Am liebsten arbeite sie allein, erzählt sie, und habe deswegen nur so viel Equipment, wie sie selbst tragen könne. Die Platten, die den analogen Film beinhalten, sind in Kassetten gefasst. 40 Bilder am Tag kann sie machen, mehr nicht. Während die Kamera auf einem Stativ steht, arbeitet Dijkstra nur mit einem kleinen Blitz, versucht, das Licht so natürlich wie möglich zu halten. Während der Vorbereitung komme sie mit ihrem Gegenüber ins Gespräch, über dessen Leben oder auch nur, wie der Tag sich bisher anfühlt. Und mit jedem Moment des Miteinanders würden sich die Personen mehr entspannen und aus Posen natürliche Haltungen werden. „Sie werden sich und der Kamera immer unbewusster“, beschreibt es Dijkstra. Sie versuche nicht zu dirigieren oder in die Haltungen einzugreifen. So bildet sich die Magie, die ihre Bilder ausmacht.
Um diese kostbaren Momente zu schaffen, begegnet Dijkstra allen Modellen mit der gleichen aufwendigen Zugewandtheit. Seit 1992 entstanden auf diese Weise verschiedene Serien, von denen manche bis heute nicht abgeschlossen sind.
„Almerisa“ (1994–2008) ist eine Serie über ein gleichnamiges Mädchen, das Dijkstra 1994 erstmalig in einer Geflüchtetenunterkunft in den Niederlanden fotografierte. Die damals Sechsjährige war nach Ausbruch des Jugoslawienkriegs mit ihrer Familie aus Bosnien geflohen. Alle zwei Jahre trafen Dijkstra und Almerisa sich, und jedes Mal entstand ein in der Komposition ähnliches Bild: Almerisa auf einem Stuhl sitzend in der Kleidung, in der sie sich zu diesem Zeitpunkt am besten gefiel. Über eine Spanne von 15 Jahren sehen wir, wie aus dem Mädchen eine junge Frau und schließlich selbst eine Mutter wird. Und aus dem Kind in unsicheren Verhältnissen eine selbstbewusste, angekommene Frau.
Es sind solche Zeiten des Wandels, die Rineke Dijkstra besonders faszinieren – Erwachsenwerden, gesellschaftliche Anpassung, extreme emotionale Momente. Für „New Mothers“ (1994) fotografierte sie Mütter mit ihrem ersten Kind, direkt nach der Hausgeburt. Vor den Wänden ihres Zuhauses, nackt, mit dem Neugeborenen im Arm. Einer Frau läuft noch Blut am Bein herunter. Dijkstra sagt, sie wollte anhand dieser intimen Fotos die Essenz von Emotionen einfangen: „Es war ein Experiment, ob es möglich ist, gegensätzliche Emotionen in einem Porträt darzustellen: die Erschöpfung und die Erleichterung, das Glück und den Stolz über die Erfahrung der ersten Geburt.“
Für „Bullfighters“ (1994 und 2000) wiederum porträtierte sie vier portugiesische Stierkämpfer, genannt Forcados, direkt nach ihrem jeweiligen Auftritt. Die Männer sind erschöpft und stolz, ihre Krawatten hängen schief, und die traditionellen Sakkos haben Risse. Blut klebt ihnen an Haut und Kleidung. Nebeneinandergestellt erzählen beide Serien davon, was es heißt, in bestimmten Gesellschaften ein Mann oder eine Frau zu sein und den Gefühlen, die das mit sich bringt.
„2025 wird das Jahr der Rineke Dijkstra in Deutschland“, sagt Thomas Köhler. Der Direktor der Berlinischen Galerie hat für sein Haus „Rineke Dijkstra: Still – Moving, Portraits 1992–2024“ kuratiert, eine Retrospektive, die alle wichtigen Werkserien und Videoinstallationen der Künstlerin zeigt. Einen Fokus legt Köhler auf die Jahre 1998 bis 2000, die Dijkstra im Rahmen des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin verbrachte. „Das war eine ganz besondere Zeit für mich, nach dem Fall der Mauer war die Stadt noch im Umbruch“, erinnert sich Dijkstra, von der in dieser Schau auch bislang unveröffentlichte Arbeiten gezeigt werden. In diesen Jahren entstanden zum Beispiel die ersten Bilder für die Serie „Parks“ (1998–2006). Dijkstra fotografierte dafür Jugendliche im Berliner Tiergarten, wobei es sie besonders faszinierte, wie diese, in all ihrer Verletzlichkeit, gerade in den künstlich angelegten Grünflächen zur Ruhe kommen.
Zum Ende unseres Gesprächs ist Rineke Dijkstra sich unsicher, ob sie sich gut genug erklärt hat. Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Gefühle ließen sich schon immer besser in Bildern als mit Worten festhalten. Auch deswegen entschied sie sich dazu, nie viel über die Menschen zu sagen, die sie porträtierte. „Es ist nicht nur die Kleidung, die sie tragen, nicht nur ihre Umgebung, ihr Blick oder die Art, wie sie stehen, die Komplexität des Bildes ergibt sich aus dem Zusammenspiel all dieser Elemente“, setzt sie zu einem letzten Erklärungsversuch an.
„Rineke Dijkstra. Still — Moving Portraits 1992 – 2024“
in der Berlinischen Galerie, Berlin
bis 10. Februar 2025
„Rineke Dijkstra.Beach Portraits“
im Städel Museum, Frankfurt
bis 18. Mai 2025