Die niederländische Fotokünstlerin Rineke Dijkstra schafft beeindruckende Bilderserien und Videoarbeiten, die in ihrer Authentizität das Genre des Porträts neu interpretieren. Große Ausstellungen in Berlin und Frankfurt am Main stellen nun ihr Werk umfassend vor
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13.01.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 235
Etwas Eigenartiges passiert, steht man vor den großformatigen „Beach Portraits“ von Rineke Dijkstra aus dem Jahr 1992. Die Bilderflut, der wir im Social-Media-Zeitalter heute ununterbrochen ausgesetzt sind, scheint für einen Moment innezuhalten und schafft Platz für ein Gefühl, das wir beim Betrachten von Bildern junger Menschen weitgehend verloren haben: Empathie und Teilnahme statt Meinung und Bewertung.
Da ist zum Beispiel dieses Mädchen mit dem grünen Badeanzug an einem polnischen Strand. Ihre Hüfte hat sie leicht nach rechts geschoben, ihren Kopf nach links, es ist keine Haltung, die man stundenlang vor dem Spiegel übt. Mit ihren dunkelblauen Augen schaut sie direkt in die Kamera. Sie strotzt dabei nicht vor Selbstbewusstsein, strahlt aber auch keine große Unsicherheit aus. Das Foto zeigt einen schwer zu fassenden Zustand – die Verletzlichkeit, ein junger Mensch zu sein.
„Wenn ich Porträts anfertige, versuche ich immer, die Komplexität des Menschen zu erfassen“, erklärt Rineke Dijkstra. Die Personen auf ihren Bildern sind für sie immer auch Symbole einer Epoche, eines Lebensgefühls oder einer Phase des Wandels. Dieses Allgemeine versuche sie festzuhalten, zugleich aber auch das Spezifische jedes Individuums. Am Tag unseres Interviews trägt Dijkstra, die oft lange nach den richtigen Worten sucht, ihre langen braunen Haare offen. Streng und glatt hinter die Ohren gekämmt, von wo aus sie wie ein wilder Fluss über die Schultern strömen. Ein zufälliges Sinnbild für das Spannungsfeld, in dem sich die niederländische Fotokünstlerin auch bei ihrer Arbeit bewegt. Auf der einen Seite ist sie Perfektionistin, auf der anderen sucht sie stets nach Authentizität, will Raum für das Unvorhersehbare lassen.
Beim Malen könne man sich Zeit nehmen und alles kontrollieren. Die Stärke der Fotografie aber sei es, dass alles in einem Moment zusammenkommen müsse, sagt Dijkstra. „Man kann bestimmte Dinge kontrollieren, aber die Magie entsteht im Zufall.“ Der scheinbare Gegensatz zwischen perfekter Bildkomposition und den ungestellt wirkenden Menschen macht ihre Fotos so einmalig. Sie hinterlassen beim Betrachter zarte Spuren wie die Abdrücke der Kinderfüße im Sand der „Beach Portraits“. Man möchte die jungen Heranwachsenden fragen: Was beschäftigt dich? In welcher Welt wirst du groß? Was für ein Mensch willst du einmal sein? Auch wenn sie heute längst mit beiden Beinen im Leben stehen.
Die Suche nach Authentizität ist das große Leitmotiv in Rineke Dijkstras Werk. Nach ihrem Studium an der Gerrit-Rietveld-Kunstakademie in Amsterdam arbeitete die Fotografin, 1959 in Sittard geboren, zunächst auf Auftragsbasis. 1991 nahm sie sich eine Auszeit, um darüber nachzudenken, an welch größerem Projekt sie als Künstlerin arbeiten könnte. Während dieser Zeit hatte sie einen Unfall mit dem Fahrrad, brach sich die Hüfte und war fortan ans Bett gefesselt. Zur Rehabilitation musste sie täglich schwimmen gehen. Nach einem Training stellte sie sich selbst im Badeanzug vor die Kamera. Erst im Zustand der Erschöpfung, so empfand sie es, konnte ein authentisches Bild von ihr entstehen. Gedanklich kehrt sie mit dem Bild auch an die Orte ihrer Jugend zurück: „Ich bin in der Nähe der Küste aufgewachsen. Für die Beach-Serie probte ich zuvor mit meinen Eltern und Freunden“, erinnert sie sich. Das Selbstporträt war das, wonach sie monatelang gesucht hatte. Aus ihm entstand die Idee für ihre erste freie Arbeit „Beach Portraits“, jene Serie, die ihr weltweite Aufmerksamkeit einbringen sollte.
In Frankfurt zeigt das Städel Museum aktuell 21 Bilder aus der „Beach Portraits“-Serie, zudem das Selbstporträt der Künstlerin im Schwimmbad und auch drei Werke der Reihe „Street“. Anlass der Ausstellung war der Ankauf des Motivs „Odessa, Ukraine, August 7, 1993“ für die Sammlung des Museums. Bis 1998 hatte Dijkstra für die Serie Jugendliche vor der Kulisse des Meeres fotografiert, an Stränden in den Niederlanden, den USA, Polen, der Ukraine, Belgien, Kroatien, Gabun und England. Schaut man bewusst nicht auf die Titel der einzelnen Werke, die immer auch den Ort verraten, vergisst man schnell, dass zwischen den einzelnen Stränden und Porträtierten oft Tausende Kilometer liegen. Das pure, konzeptionell klare Setting aus Strand und Meer lenkt den Blick auf die Menschen. Auf die Teenager und Kinder, auf ihre Gesichter, Körperhaltungen und Strandbekleidungen, auf die einfachen Codes komplexer Leben. Die Strandporträts suggerieren dabei eine große Entspannung und Ruhe. Das täuscht aber, wie Rineke Dijkstra lächelnd einräumt. In Polen etwa bildete sich schnell eine Menschentraube um sie, die dem Shoot voller Neugier beiwohnte.
Die Leute, die sie fotografiert, müssen stets lange posieren. Dijkstra macht zunächst Polaroids, die sie sich gemeinsam mit den Porträtierten ansieht. Erst dann kommt es zum tatsächlichen Fotografieren. „Diese gemeinsame, intensive Erfahrung baut eine kurze Beziehung auf“, sagt die Künstlerin. In Kontakt bleibe sie mit den Menschen nur in wenigen Fällen. Aber letzten Sommer, da habe sie eine E-Mail bekommen von dem Mädchen aus Polen im grünen Badeanzug. Es ist bis heute eine ihrer berühmtesten Arbeiten. Ihre Tochter sei nun genauso alt wie sie damals als Mädchen auf dem Bild und wolle Kunst studieren. „Das Problem ist“, sagt die Fotografin, „dass ich eine jahrelange Beziehung zu den Bildern habe, aber nicht zu den Menschen, die darauf sind.“ Als sie die E-Mail gelesen habe, habe sie fast geweint, so gerührt sei sie gewesen. Nach kurzer Korrespondenz entschied sie, nach Polen zu fahren und die Familie zu besuchen. „Ich habe ein Familienporträt gemacht und es ihnen gerahmt geschickt. Die Begegnung war etwas ganz Besonderes für mich.“
Mit ihrer 4×5-Zoll-Großformat-Plattenkamera porträtiert Dijkstra Personen rund um den Globus. Sie sucht dabei, sagt sie, nach dem Kern des menschlichen Seins. Auffällig an ihren Bildern ist die Detailtreue, die das große Format mit sich bringt, und der langwierige Prozess der Herstellung. Am liebsten arbeite sie allein, erzählt sie, und habe deswegen nur so viel Equipment, wie sie selbst tragen könne. Die Platten, die den analogen Film beinhalten, sind in Kassetten gefasst. 40 Bilder am Tag kann sie machen, mehr nicht. Während die Kamera auf einem Stativ steht, arbeitet Dijkstra nur mit einem kleinen Blitz, versucht, das Licht so natürlich wie möglich zu halten. Während der Vorbereitung komme sie mit ihrem Gegenüber ins Gespräch, über dessen Leben oder auch nur, wie der Tag sich bisher anfühlt. Und mit jedem Moment des Miteinanders würden sich die Personen mehr entspannen und aus Posen natürliche Haltungen werden. „Sie werden sich und der Kamera immer unbewusster“, beschreibt es Dijkstra. Sie versuche nicht zu dirigieren oder in die Haltungen einzugreifen. So bildet sich die Magie, die ihre Bilder ausmacht.
Um diese kostbaren Momente zu schaffen, begegnet Dijkstra allen Modellen mit der gleichen aufwendigen Zugewandtheit. Seit 1992 entstanden auf diese Weise verschiedene Serien, von denen manche bis heute nicht abgeschlossen sind.
„Almerisa“ (1994–2008) ist eine Serie über ein gleichnamiges Mädchen, das Dijkstra 1994 erstmalig in einer Geflüchtetenunterkunft in den Niederlanden fotografierte. Die damals Sechsjährige war nach Ausbruch des Jugoslawienkriegs mit ihrer Familie aus Bosnien geflohen. Alle zwei Jahre trafen Dijkstra und Almerisa sich, und jedes Mal entstand ein in der Komposition ähnliches Bild: Almerisa auf einem Stuhl sitzend in der Kleidung, in der sie sich zu diesem Zeitpunkt am besten gefiel. Über eine Spanne von 15 Jahren sehen wir, wie aus dem Mädchen eine junge Frau und schließlich selbst eine Mutter wird. Und aus dem Kind in unsicheren Verhältnissen eine selbstbewusste, angekommene Frau.
Es sind solche Zeiten des Wandels, die Rineke Dijkstra besonders faszinieren – Erwachsenwerden, gesellschaftliche Anpassung, extreme emotionale Momente. Für „New Mothers“ (1994) fotografierte sie Mütter mit ihrem ersten Kind, direkt nach der Hausgeburt. Vor den Wänden ihres Zuhauses, nackt, mit dem Neugeborenen im Arm. Einer Frau läuft noch Blut am Bein herunter. Dijkstra sagt, sie wollte anhand dieser intimen Fotos die Essenz von Emotionen einfangen: „Es war ein Experiment, ob es möglich ist, gegensätzliche Emotionen in einem Porträt darzustellen: die Erschöpfung und die Erleichterung, das Glück und den Stolz über die Erfahrung der ersten Geburt.“
Für „Bullfighters“ (1994 und 2000) wiederum porträtierte sie vier portugiesische Stierkämpfer, genannt Forcados, direkt nach ihrem jeweiligen Auftritt. Die Männer sind erschöpft und stolz, ihre Krawatten hängen schief, und die traditionellen Sakkos haben Risse. Blut klebt ihnen an Haut und Kleidung. Nebeneinandergestellt erzählen beide Serien davon, was es heißt, in bestimmten Gesellschaften ein Mann oder eine Frau zu sein und den Gefühlen, die das mit sich bringt.
„2025 wird das Jahr der Rineke Dijkstra in Deutschland“, sagt Thomas Köhler. Der Direktor der Berlinischen Galerie hat für sein Haus „Rineke Dijkstra: Still – Moving, Portraits 1992–2024“ kuratiert, eine Retrospektive, die alle wichtigen Werkserien und Videoinstallationen der Künstlerin zeigt. Einen Fokus legt Köhler auf die Jahre 1998 bis 2000, die Dijkstra im Rahmen des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin verbrachte. „Das war eine ganz besondere Zeit für mich, nach dem Fall der Mauer war die Stadt noch im Umbruch“, erinnert sich Dijkstra, von der in dieser Schau auch bislang unveröffentlichte Arbeiten gezeigt werden. In diesen Jahren entstanden zum Beispiel die ersten Bilder für die Serie „Parks“ (1998–2006). Dijkstra fotografierte dafür Jugendliche im Berliner Tiergarten, wobei es sie besonders faszinierte, wie diese, in all ihrer Verletzlichkeit, gerade in den künstlich angelegten Grünflächen zur Ruhe kommen.
Zum Ende unseres Gesprächs ist Rineke Dijkstra sich unsicher, ob sie sich gut genug erklärt hat. Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Gefühle ließen sich schon immer besser in Bildern als mit Worten festhalten. Auch deswegen entschied sie sich dazu, nie viel über die Menschen zu sagen, die sie porträtierte. „Es ist nicht nur die Kleidung, die sie tragen, nicht nur ihre Umgebung, ihr Blick oder die Art, wie sie stehen, die Komplexität des Bildes ergibt sich aus dem Zusammenspiel all dieser Elemente“, setzt sie zu einem letzten Erklärungsversuch an.
„Rineke Dijkstra. Still — Moving Portraits 1992 – 2024“
in der Berlinischen Galerie, Berlin
bis 10. Februar 2025
„Rineke Dijkstra.Beach Portraits“
im Städel Museum, Frankfurt
bis 18. Mai 2025