William Turner in München

Der Nebel der Welt

William Turner schuf im 19. Jahrhundert Landschaftsbilder, die bis heute vieles offenlassen: Sind sie frühe Abstraktionen oder gar Gesellschaftskritik? Das Münchner Lenbachhaus zeigt nun in einer großen Ausstellung die Vielseitigkeit des Romantikers

Von Ulrich Clewing
23.10.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 219

Die Bilder, die dieser Maler in den letzten Jahren seines Lebens geschaffen hat, „sind Zeichen seiner Geisteskrankheit und künstlerisch vollkommen wertlos“. Wann dieser mentale Verfall eingesetzt habe, darüber gäbe es keinen Zweifel: „im Jahr 1845“. Das sind harte Worte. Aber nicht sie sind es, die einen erstaunen lassen, sondern wer sie formulierte. Denn bis dahin hatte John Ruskin, der große John Ruskin, der als Universalgelehrter das englische Geistes- und Gesellschaftsleben mehr als ein halbes Jahrhundert prägte, William Turner immer unterstützt. Noch 1843 stellte er ihn im ersten Band seines Buches „Modern Painters“ als missverstandenen Märtyrer dar, ein Opfer „ignoranter Rezensenten“. Aber diese letzten Werke waren auch für Ruskin zu viel. Anfang 1844 besuchte er ihn im Atelier, um ihn zu beknien, dieses eine Mal für die Ausstellung in der Royal Academy doch bitte ein „akzeptables Bild“ abzuliefern. Aber der Künstler, so notierte Ruskin am Abend des 26. Januar in seinem Tagebuch, „unterbrach mich barsch“.

Turner hatte sich ja auch schon einiges anhören müssen. Sein Gemälde „Snow Storm“ von 1842 sei ein „Scherz“ – entstanden an einem Waschtag mit einer „Menge herumwirbelnder Seifenlauge“. Ein anderer Kritiker meinte, es sähe aus wie mit einem Besen über die Leinwand geschrubbt. Heute zählt „Snow Storm“ zu den berühmtesten Bildern der europäischen Kunstgeschichte, und das schon seit langer, langer Zeit. Wie kam es also zu diesen Gehässigkeiten? Zum einen war Joseph Mallord William Turner, 1775 in Covent Garden in London als Sohn eines Barbiers geboren, nicht gerade der geschmeidige Typ. Als Maler ein Wunderkind, wurde er mit 14 auf die Royal Academy geschickt, weil sein Talent so offensichtlich war. Nur zwölf Jahre später wurde er ihr vollwertiges Mitglied. Der frühe Ruhm veranlasste ihn sicher nicht, sich im Verhalten zu anderen mit allzu großen Selbstzweifeln herumzuschlagen. In der Tate Britain in London, die heute die meisten Werke aus dem berühmten „Turner Bequest“ besitzt, hängt ein Selbstbildnis von ihm, das er im Alter von 23 Jahren malte. Es zeigt einen hübschen jungen Mann, der seit Langem sehr auskömmlich von seiner Kunst leben konnte, mit wachem Blick aus graublauen Augen, dunklen Schatten darunter und leicht widerspenstigen blonden Haaren, die bereits einen Stich ins Graue haben. Schon damals waren künstlerische Kompromisse für ihn indiskutabel. Es heißt, er habe von Sammlern auch deshalb exorbitante Summen verlangt, um sie vom Kauf seiner Bilder abzuhalten – oder sie so richtig bluten zu lassen.

William Turner Vorlesungsblatt Lenbachhaus
Turners Vorlesungsblatt Nr. 11, „Spheres at Different Distances from the Eye (after Thomas Malton Senior)“, um 1810. © Tate

Aber das ist natürlich nicht alles. „William Turner“, sagt Karin Althaus, Kuratorin am Lenbachhaus in München, „hat als einer der ersten Künstler alle Grenzen und malerischen Konventionen überschritten.“ Althaus ist zusammen mit ihrem Ko-Kuratoren Nicholas Maniu verantwortlich für das Konzept der großen Turner-Ausstellung, die ab Ende Oktober im Kunstbau des Lenbachhauses am Königsplatz stattfindet. „Three Horizons“ ist eine der seltenen Gelegenheiten, Werke des Malers außerhalb Englands zu betrachten. Rund 40 Gemälde und ebenso viele Zeichnungen und Aquarelle wurden dafür aus der Tate Britain entliehen. Die letzte große Turner-Ausstellung südlich von Main und Mosel fand 2002 in Zürich statt. In München, hat Nicholas Maniu recherchiert, zeigte der British Council einmal Aquarelle des Malers, aber das ist siebzig Jahre her und blieb das einzige Gastspiel Turners.

Mit anderen Worten: Dies ist eine Chance, die so bald nicht wiederkommt. Auch weil der lang gestreckte Raum im Kunstbau sich hervorragend für die Grundidee der Ausstellung eignet. „Wir wollen sein Werk chronologisch anordnen“, sagt Althaus, „an der einen langen Wand im Raum hängen die Bilder, die Turner ausgestellt hat. Und an der anderen jene, die er nicht öffentlich zeigte. Da wird man erleben, dass es einen Punkt gibt, an dem die beiden Erzählstränge anfangen zusammenzulaufen.“

Aus London nach München kommen so grandiose Gemälde wie der schon erwähnte „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth“ von 1842: ein wildes Durcheinander von Weiß- und Grautönen in allen Schattierungen, dessen Dynamik und Wucht die Gewalt der entfesselten Elemente so greifbar werden lässt, als sei auch die Malerei dem Sturm und den aufgepeitschten Wellen entstiegen. Die Gischt und der über das Meer fegende Schnee – das Bild, ein Taumel der Kräfte der Natur. Und eines der Gegenwart und Zukunft: In der oberen Hälfte etwa in der Mitte der Leinwand erkennt man in all dem Grau und Weiß einen trichterartigen, rotbraunen Keil. Es ist der Rauch der Dampfmaschine, mit deren Hilfe sich das Schiff durch den Orkan pflügt. Die neue Zeit triumphiert.

William Turner Lenbachhaus Südfrankreich
Farben des Südens: „Coastal Terrain and Buildings, South of France or Italy“ malte William Turner um 1834. © Tate

„William Turner wollte ein Maler sein, der nur an seinen künstlerischen Leistungen gemessen wird – und er stellte Integrität und Originalität über Moden oder kritische Orthodoxie“, erklärt Sam Smiles im Einführungstext zur Schau. „Wahrer Wert kann nur aus kreativem Streben entstehen, das war sein zentraler Antrieb, und das erklärt auch, warum er Kompromisse strikt ablehnte.“ Turner wollte die Dinge malen, wie er sie sah, und sich dabei von niemandem hineinreden lassen. Ihm ging es darum, dem zu folgen, was ihm seine Wahrnehmung und seine Vorstellungskraft eingaben. Gleichzeitig verstand er sich als Realist, der ein Gespür besaß für die, wie er selber sagte, „Unvollkommenheiten der Natur“.

Auch Technik und Wissenschaft, Philosophie und Geschichte hatten William Turner schon immer interessiert, er war befreundet mit der Astronomin Mary Somerville und dem Chemiker und Physiker Michael Faraday, beide Koryphäen der Naturforschung ihrer Zeit. Als Goethes „Zur Farbenlehre“ von Charles Lock Eastlake 1840 ins Englische übersetzt wurde, widmete er dem dreibändigen Werk zwei Gemälde, wobei er in einem Goethe sogar namentlich erwähnt, „Light and Colour (Goethe’s Theory), The Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis“ und „Shade and Darkness – the Evening of the Deluge“ Und setzte er schon in „Snow Storm“ den Errungenschaften seiner Epoche ein Denkmal, so tat er es zwei Jahre darauf noch einmal. „Rain, Steam, and Speed – The Great Western Railway“ ist das wohl berühmteste von all seinen berühmten Gemälden. Es stellt auch einen Sturm dar und eine dieser neuartigen Lokomotiven, die ihm mit der Macht von Stahl, Feuer und Dampfdruck trotzt. „Rain, Steam, and Speed“, das zur Sammlung der Londoner National Gallery gehört, gilt in dem Museum als unentbehrlich und kann deshalb nicht in München sein. Aber der „Snow Storm“ ist ein gleichwertiger Ersatz, mehr noch: Es ist womöglich sogar das bessere Bild, wegen der Dramatik, die Turner dort virtuos – malerisch, kompositorisch – auf die Spitze treibt.

Aus heutiger Sicht ist die Kritik seiner Zeitgenossen an diesem Meisterwerk schwer zu verstehen. Und ironischerweise ebbte sie auch kurz nach Turners Tod 1851 ab, um sich in rückhaltlosen Enthusiasmus zu verwandeln, nachdem die Impressionisten den Künstler entdeckten. Aber sie hatte Folgen. Dem Vorwurf, das Bild nicht „nach der Natur“ gemalt zu haben, setzte der eigensinnige Rebell mit dem Londoner Cockney-Akzent den wohl längsten Werktitel der europäischen Kunstgeschichte entgegen. Er lautet übersetzt: „Schneesturm – Ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt gibt Leuchtsignale ab und fährt voran. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die „Ariel“ Harwich verließ.“ 186 Zeichen, 46 mehr als ein Twitter-Tweet bis 2017 hatte. Damit wollte er sagen: Ich war da, und ihr nicht. Dem jungen John Ruskin, der ihn zu dieser Zeit noch nicht für verrückt erklärt hatte, klagte Turner den mangelnden Realitätssinn seiner Kritiker: „Seifenlauge und weiße Tünche! Was wollen die denn eigentlich? Was glauben sie denn, wie das Meer ist? Ich wünschte, sie wären selbst mittendrin gewesen.“

William Turner Lenbachhaus
William Turner, „Three Seascapes“, um 1827. © Tate

Auch andere Bilder, die in München zu sehen sind, strahlen eine Faszination aus, die sich kaum adäquat beschreiben lässt. Da sind die rätselhaften Aquarelle, Studien von Landschaften, in der Fachwelt auch als „Beginnings“ bekannt, für die der Künstler Farben übereinanderschichtete, um ihren Klang zu erproben. Sie erinnern an Arbeiten des Abstrakten Expressionisten Mark Rothko, was Rothko selbst auch fand und der Tate sein Bild „Untitled“ von 1950/52 schenkte. Tatsächlich sind die formalen Parallelen zu Blättern wie den „Studies of the Moon over the Pyramids and Sunset Clouds over Stonehenge“ (1822) oder einem Gemälde wie „Three Seascapes“ von 1827 ganz verblüffend.

Gerade diese Zeichnungen und Gemälde, und speziell die aus den 1840er-Jahren, wie die Ansichten der Walhalla in Donaustauf, des Luzerner Sees oder aus Venedig, wo es Turner gelang, Licht, Farbe und Luft zu unvergleichlich dichten atmosphärischen Einheiten zu formen – sie haben Bewunderer wie Rothko animiert, den Maler mal mehr, mal weniger ernsthaft als Pionier der abstrakten Kunst zu betrachten. Diese Ansicht teilen die Münchner Kuratoren Karin Althaus und Nicholas Maniu nicht: „Wer in ihm einen protoabstrakten Künstler erkennen möchte“, sagt Althaus, „lässt außer Acht, dass er für seine Bilder immer ein Thema hatte.“

Als interessant empfinden Althaus und Maniu den Umstand, dass man seit der letzten, erst vor Kurzem vollzogenen Umgestaltung des Turner-Flügels in der Tate Britain die Bilder wieder stärker gesellschaftspolitisch interpretiert. „Es ist erstaunlich, wie die Beschäftigung mit seinem Werk immer wieder neue Fragestellungen liefert“, sagt Althaus. „Nehmen Sie die Klimakrise: Auf einmal ist unser Blick dafür geschärft, was Luftverschmutzung für einen Sonnenuntergang bedeuten könnte – genau das hat William Turner gemalt.“

William Turner Venedig Lenbachaus
William Turner, „Bridge of Sighs, Ducal Palace and Custom-House, Venice: Canaletti Painting“, 1833. © Tate

Doch damit ist die stilistische Vielfalt, die man im Schaffen dieses Jahrhundertkünstlers findet, noch lange nicht erschöpft. Amy Concannon, Tate Britain-Kuratorin, betreut die Schau zusammen mit Sam Smiles, Professor der Kunstgeschichte an der Universität von Exeter, von Londoner Seite. In ihrem Text in der Ausstellungsbroschüre weist Concannon darauf hin, dass es in Turners Œuvre so unterschiedliche Arbeiten gibt, „dass man nicht ohne Weiteres darauf käme, sie könnten von ein und demselben Künstler stammen“. Aus Venedig, wo sich Turner sehr gerne aufgehalten hat, stammen Bilder, die ein Traum in Weiß, Gelb und dezentem Rosa sind. Auf ihnen ist kaum etwas anderes zu erkennen als der Dunst der Lagune in hochkonzentrierter Form. Aber es werden in München auch Gemälde gezeigt wie „Bridge of Sighs, Ducal Palace and Custom-House“ von 1834, das genauso gut ein Canaletto sein könnte – der italienische Maler ist sogar unten links im Bild dargestellt. Oder „Moonlight, a Study at Millbank“ von 1797: Caspar David Friedrich in Reinkultur.

Turner hat den Abgang einer Lawine in den Graubündner Alpen gemalt und, im extremen Querformat, die in den Abendhimmel ragenden Baumwipfel im Park von Guildford Castle. Im Kunstbau werden mysteriöse, beinahe gegenstandslose Bildschöpfungen präsentiert wie „The Fall of Anarchy“ oder „The Long Cellar at Petworth“. Und ein paar Meter weiter steht man vor einem wunderschönen, romantischen, ortlosen Sonnenuntergang, dem „Sunset“. All diese Bilder stammen aus derselben Zeit, aus den Jahren zwischen 1830 und 1835. Es gibt in der Ausstellung Seestücke und Landschaften, bei denen man versucht ist, sie fast konventionell zu nennen, wie „Van Tromp Returning after the Battle off the Dogger Bank“ von 1833 und „Grenoble Seen from the River Drac with Mont Blanc in the Distance“ von 1802.

Und dann sind da die beglückenden, einem den Kopf verdrehenden Lehrzeichnungen, die Turner für die Vorlesung zur korrekten Anwendung der Perspektive an der Royal Academy, die er von 1811 an siebzehn Jahre lang hielt, anfertigte. Diese Zeichnungen sehen aus wie frühe Kandinskys oder Entwürfe zu Plastiken der Konstruktivisten aus den 1920ern. Sam Smiles bringt die erstaunliche Bandbreite dieses Malers auf den Punkt: „There is a Turner for everyone.“ Was etwas unelegant übersetzt, bedeutet: Für jeden Geschmack gibt es einen Turner! Jede Generation, die Impressionisten und die Pointillisten, die Wegbereiter der Abstraktion, die Informellen, die abstrakten Expressionisten und die Menschen von heute – alle erkennen in ihm den Künstler, den sie in ihm gerade am liebsten sehen wollen. Karin Althaus erklärt sich das so: „Er war sehr belesen und hat sich einfach mit allem intensiv beschäftigt. Die Stilvielfalt ist Ausdruck der Vielfalt seiner Interessen.“ There is a Turner for everyone. Sehr wahrscheinlich, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändert.

Service

AUSSTELLUNG

„Turner – Three Horizons“,

Lenbachhaus, Kunstbau am Königsplatz,

28. Oktober bis 10. März 2024

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