Das Glitzern des Meeres und sommerliche Strände wurden im 19. Jahrhundert von der Malerei als atmosphärische Motive entdeckt. Eine Bilderreise zu den schönsten Küsten der jüngeren Kunstgeschichte
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21.09.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 216
Sehr stark und etwas einsam in der sonst eher männlichen Riege der Licht-und-Meer-Wahrnehmung die Künstlerinnen Anna Ancher und Marie Krøyer. Der viel berühmtere Peder Severin Krøyer hat sie 1893 – „Anna Ancher und Marie Krøyer am Strand von Skagen“ – als zarte weiße Gestalten gemalt, ein Inbegriff impressionistischer Frauen. Das Ehepaar Krøyer und Anna Ancher bildeten den Kern der Skagen-Maler, die ab 1880 der dänischen Kunst nach einer Durststrecke wieder Ruhm verschafften und aus einer abgeschiedenen Fischerei-Region ein beliebtes Urlaubsziel machten, am nördlichsten Zipfel Dänemarks. Ihre Strandstücke gehören zum Schönsten, was an der Küste je gemalt wurde: märchenhaft weich ist die Textur, die auch von dem weichen Licht kommt, dass da oben in Skagen herrscht. Gäbe es das Wort „Schmelz“ nicht, für diese Malerei müsste man es erfinden. Sie ist nicht nur ein Gegenstück zum glitzernden Grau der Haager Schule. Vor allem markiert sie endlich wieder einen visuellen Clash zwischen Nord und Süd. Dieses dänische Schmelz-Leuchten im ewigen Blau hebt sich deutlich von Sorollas knallhellem Weiß mit Rotstich ab.
Aber meist ist das Süd-Nord-Gefälle von Licht und Lichtwahrnehmung nicht so deutlich. Die schönsten Sommer haben nämlich oft Künstler aus dem Norden gemalt – im Süden. Schaut man sich die italienischen und meeresbezogenen der fast 170 grandiosen Ölstudien an, die Florian Illies für „Mehr Licht“ im Lübecker Museum Behnhaus Drägerhaus versammelt hat, von Föhr aus dreieinhalb Autostunden weiter südlich, wird es warm bis heiß. Die Dänen und die Deutschen stellten im 19. Jahrhundert die größten Malergruppen, die gen Süden nach Italien zogen, das zeigt diese Ausstellung, zuvor schon im Düsseldorfer Kunstpalast. Vor allem setzt sie dem direkten Wirklichkeitszugriff der Pleinair-Ölstudien ein Denkmal. Jedenfalls kann man unter anderem auf Bildern des aus Gera stammenden Thüringers Heinrich Reinhold die knalligsten Sommer erleben. Sein Sorrent zeigt, wie blau der Himmel ist, wie hell die Sonne – und wie die Fischer mit ihren roten Mützen sich die Zeit vertreiben.
Die nordischen Maler, als beste Chronisten der „Italianità“, haben die Sehnsucht miterfunden, die uns seitdem immer wieder ins Land der blühenden Zitronen treibt. Und nirgendwo sind diese Früchte größer als auf der sorrentinischen Halbinsel, wo auch die mythische Insel Capri nicht fern ist. Tausendfach gemalt, kann man heute kaum noch jemandem zum Besuch dieses touristisch totgetrampelten Fleckchens raten. Dann doch lieber nach Lübeck zur Ölstudie „Blick von Capri zur Sorrentinischen Halbinsel“ von Carl Morgenstern, vor bald 200 Jahren entstanden. In diesem Bild steckt alles, was man im Sommer braucht. Tiefblaues Wasser, Hitzedunst am Himmel – und Ruhe. Endlose, warme Ruhe.
Johan Christian Clausen Dahls „Gewitterlandschaft“ hält dann, ebenfalls in Lübeck, eine Abkühlung bereit. Norwegen im Sommer, das heißt ja: Ein Paar dicke Socken dürfte reichen, und die Übergangsjacke kann man vorne offenlassen, meistens. Aber wie Dahl das Regenband quer übers Blatt zieht, ist künstlerisch so schön und gekonnt, da lässt man sich gerne mittägliche Gänsehaut gefallen. Das Gewitterschauspiel über der felsigen Küste ist mit Ölfarben direkt auf Papier übertragen. Gelernt hat Dahl diese direkte Vor-Ort-Naturerfassung allerdings auch im Süden, in Italien.
In vielen Fällen muss man den Süden und den Norden der Kunst im 19. Jahrhundert also zusammendenken, da Europa durch die Eisenbahnen ohnehin viel mehr zusammenrückte. Der Kunsthistoriker Andreas Braun hat das einmal sehr gut auf den Punkt gebracht: Noch Napoleon benötigte um 1800 für die Strecke von Paris nach Rom ungefähr so viel Zeit wie Caesar knapp 2000 Jahre früher. Beiden stand nur Pferdegeschwindigkeit zur Verfügung. Doch ab den 1830er-Jahren negierte die Eisenbahn dieses über Jahrtausende verbindliche Geschwindigkeitsmaß – um 1860 war die Strecke Paris-Rom in gut zwei Tagen zu schaffen.
Als Dahl sein Gewitter undatiert hinterließ, also irgendwann vor seinem Tod 1857, war Clarenbach noch lange nicht auf der Welt und ebenso wenig Sorolla. Monet aber war wohl gerade so eben geboren, ein kleiner Junge, der mit den Eltern aus Paris nach Le Havre zog, an den wogenden Atlantik. Dort lernte er später von Eugène Boudin, einem der ganz großen Licht-und-Meer-Maler und Erfinder des Strandstücks. Wen das weiterführend interessiert, der könnte noch mal schnell zurück zur Monet-Schau nach Monaco an die Riviera fahren – oder sich den schönen Katalog besorgen, ach was, gleich alle Publikationen der genannten Ausstellungen! Lesen kann ja Reisen ersetzen. Wobei: In Valencia serviert Jorge de Andrés in seinem Guide-Michelin-Restaurant Vertical zur Feier des Jubiläums extra ein Sorolla-Menü. Die Speisen, so heißt es, geben Einblicke in die breite Kultur Spaniens – wie Sorollas Gemälde.