„Maler des Heiligen Herzens“

Eigensinnige Moderne

Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zeigt eine herzergreifende Ausstellung, was radikale Individualisten zur Kunst der Moderne beitrugen

Von Tim Ackermann
17.10.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 204

Ein Gärtner, der sich an die Gestade der Götter träumte. Eine Haushaltshilfe, die sich in einem Universum aus Blumen verlor. Ein ehemaliger Zirkusringer, der vom Körper seiner Frau nicht genug bekommen konnte. Drei Menschen, die ihrer Vorstellungskraft freien Lauf ließen, dabei Bilder voller Eigensinn schufen und die dank hartnäckiger Förderung neben anderen Malern Ende der 1920er-Jahre in Frankreich als „peintres du Cœur-Sacré“ Aufmerksamkeit erhielten. Zu dieser bunten Truppe von Künstlerindividualisten zählte auch ein pensionierter Postbeamter, der sich auf Parisansichten spezialisiert hatte. Und natürlich Henri Rousseau, schon damals berühmt als Urvater einer autodidaktischen Moderne, dem sein ehemaliger Beruf zum künstlerischen Markennamen geworden war: Rousseau – der „Zöllner“. Nur ihm gelang die Aufnahme in den Kunstgeschichtskanon.

André Bauchant, Séraphine Louis, Camille Bombois, Louis Vivin und Henri Rousseau. Unter dem Titel „Die Maler des Heiligen Herzens“ werden ihre Werke, kuratiert von Udo Kittelmann und größtenteils aus der Kölner Sammlung Zander stammend, nun im Museum Frieder Burda in Baden-Baden gezeigt. Der heutige Reflex der beständigen Kanonrevision rechtfertigt die Auseinandersetzung allemal. Aber muss man dafür die Bilder wirklich im Original betrachten? Ja, man sollte es, denn es gibt einiges zu gewinnen, wenn man bloß genau hinschaut.

Nehmen wir Camille Bombois, der in der Ausstellung den Auftakt macht: Sein Faible für voluminöse, griffige Körper lässt sich mit seiner Ringervergangenheit genauso erklären wie mit seiner späteren Arbeit als Drucker, bei der er zahllose Bilder mit festkonturierten Formen betrachtet haben muss. Bombois setzte besonders gerne Frauenfiguren groß und zentral ins Zentrum seiner Bilder. Bei den unbekleideten Varianten assistierte ihm seine Ehefrau Eugénie als Modell.

Die schiere Masse an weiblichen Reizen wirkt in diesem Ausstellungsteil zunächst wie eine recht monotone Marotte. Und doch gibt es mehrere wunderbare Bilder, in denen Bombois seiner Obsession gewahr zu werden scheint und ihr bewusst ausweicht, indem er die Aufmerksamkeit der Betrachter auf andere Dinge lenkt: So malt er einer Nackten ein großes Fenster in den Hintergrund, in dem winzig klein die dampfenden Schlote einer grauen Stadtsilhouette zu erkennen sind. Davor, auf dem Sims, liegt eine Zigarette, von der ebenfalls ein Rauchfaden in den Himmel steigt. Prompt hat man die Dame im Vordergrund vergessen. Ebenso scheinen die Grazien in „Les trois baigneuses“ nur deshalb zu existieren, damit ihr Schöpfer an ihren Beinen einen bizarren Spiegelungseffekt erproben konnte. Denn Reflektionen im Wasser faszinierten Bombois als Sohn eines Binnenschiffers ganz besonders, sodass sie immer wieder in seinen Werken auftauchen. Nur in „Nymphéas sur l’étang de la ville d’Avray“ (1926) hat er die Wasserfläche komplett mit kleinen Seerosen zugemalt – und das passt wiederum sehr schön zu den Blütenorgien von Séraphine Louis, die auf der anderen Seite des Saals zu bewundern sind.

Auch Louis’ Bilder verdienen genaues Studium, doch für den Moment gilt schon bei Bombois festzuhalten, dass wir es mit einer Malerei der Unbeirrtheit zu tun haben, die das Leben beim Schopf packt und auf die Leinwand transferiert: Eine Seerose ist eine Seerose. Daran gibt es nichts zu zweifeln.

Kunst dermaßen ohne Zweifel ist allerdings ein Versprechen. Sie verspricht sicheren Halt auf einem Feld, das sich häufig als schwankendes Terrain erwiesen hat. Im frühen 20. Jahrhundert – im Zeitalter der sich wandelnden Avantgarden und Ismen – ist es dieser ungetrübte Glaube an die eigene Schöpfungskraft, der die sogenannten „primitifs modernes“ mit der seinerzeit als „primitiv“ etikettierten Kunst Afrikas und Ozeaniens verbindet, zumindest in den Augen eines westlich-großstädtischen Publikums. Das Narrativ einer autodidaktischen Außenseiterkunst, die unabhängig von der Kunstgeschichte mit ihren Geschmacks- und Theoriefragen existiert, hätte sich schon damals widerlegen lassen. Aber der Wunsch nach Künstlern, die sich weder in der Folge der akademischen Tradition noch im suchenden Bruch mit ihr bewegten, war zu groß. Kriege, Krisen und massive gesellschaftliche Veränderungen prägten die frühe Moderne. Die Welt geriet ins Wanken. Und dann taucht eine Kunst auf, die nicht zweifelt.

Besonders der deutsche Kritiker und Kunsthändler Wilhelm Uhde war ergriffen von der Kraft dieser Malerei, sodass er erstmals 1928 in seinem Buch „Picasso et la tradition française“ versuchte, sie als „peintres du Cœur-Sacré“ zu einer Bewegung zusammenzufassen. Im selben Jahr stellte er einige von ihnen in der Galerie des Quatre Chemins in Paris aus. Obwohl er bis auf Séraphine Louis niemanden selbst entdeckt hatte, wurde er einer der wichtigsten Förderer dieser Künstler. Dem in Paris schon um 1900 wohlbekannten Henri Rousseau konnte er 1908 immerhin noch die erste Einzelschau ausrichten.

Von Rousseau kann man in Baden-Baden die große Dschungelszene „Le lion, ayant faim, se jette sur l’antilope“ (1898/1905), ausgeliehen von der Fondation Beyeler im nahe gelegenen Basel, bewundern. Bemerkenswert ist jedoch ebenfalls ein ganz kleines Bild des Künstlers, „La rivière“, in dem sich ein führerloser Kahn in der Mitte des Flusses auf unnatürliche Weise gegen die Fließrichtung quer gestellt hat. Was will uns dieses Rätselbild sagen? Auf jeden Fall erzählt es davon, dass die Macht des „Heiligen Herzens“ darin lag, genau das zu malen, was einem richtig und wichtig erschien. Louis Vivin etwa stand offensichtlich auf Kriegsfuß mit der Perspektive und komplexen Figurendarstellungen, aber als Postbote hatte er Trottoirs und Fassaden zur Genüge studiert. In seinen originellen Parisansichten wie etwa „La Porte Saint Martin“ ist jeder einzelne Stein durch schwarze Umrisslinien eigens betont – es gibt wohl keine anderen Veduten auf dieser Welt, die derart das Gebautsein der Stadt zum Thema haben. Für André Bauchant hingegen spielten Felsen, Wellen und Kleiderfalten in seinen Werken eine so untergeordnete Rolle, dass er sie alle mit demselben öden Linienknittermuster malte. Großen Wert legte er dafür auf die Beziehungen seiner stets blassgesichtigen Figuren zueinander, und daher hinterlassen seine Historienbilder im Stile Giottos wie „Le triomphe de Neptune“ (1929) den Eindruck dramatischer göttlicher Familienaufstellungen.

Bleibt noch Séraphine Louis. Für sie allein schon lohnt sich der Ausstellungsbesuch. Denn wer ihre Werke nicht im Original kennt, könnte denken, Uhdes ehemalige Haushaltshilfe im Dörfchen Senlis, die später während der deutschen Besatzungszeit in einer Nervenheilanstalt zugrunde ging, wäre dem Stil einer naiven Bauernmalerei gefolgt und hätte ihre großen Blumenbilder auf pastose Weise zugepinselt. Das Gegenteil ist der Fall. In der Nahsicht offenbart sich, wie frei sie zu Werk ging: Die Adern von Blättern deutete sie mit flüchtigen, expressiven und sich überlagernden Strichen an. Früchte und Samen wirken zum Teil wie hastig aufgestempelt. Die Künstlerin arbeitete in hohem Tempo mit sehr flüssiger Farbe Nass-in-Nass, wobei die Leinwände wohl auf dem Boden lagen. Das Resultat ist eine Malerei, bei der die Bildebenen leicht durchsichtig werden und sich gegenseitig durchdringen, in der die Komposition fast schon als abstraktes All-over angelegt scheint. Die Kunst einer eigensinnigen Moderne erreicht in diesem Moment ihren Gipfelpunkt. 

Service

AUSSTELLUNG

„Die Maler des Heiligen Herzens“,

Museum Frieder Burda, Baden-Baden,

bis 20. November

museum-frieder-burda.de 

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