Documenta 15

Brücken bauen

Gemeinsam mit dem Architekturkollektiv Recetas Urbanas aus Sevilla haben Kasseler Grundschulkinder ein begehbares Kunstwerk erschaffen, das Länder und Generationen verbindet

Von Clara Zimmermann
14.06.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 200

Der Bootsverleih mit seiner großen Wiese eignet sich nicht nur dazu, Lumbung, sondern auch „Nongkrong“ zu praktizieren. Das Wort bedeutet so viel wie „gemeinsam abhängen“ – ein Konzept, das auch in die Weltsicht von Architekturkollektiv-Gründer Santi passt. Stresssituationen scheint er nicht zu kennen und erklärt, wie wichtig es für ihn ist, sich nach der Arbeit zu erholen und ein Bier zu trinken. An den Wochenenden lädt Santi alle Mitwirkenden ein, mit ihm und seiner Familie, die auch an der Brücke baut, am Bootsverleih zu entspannen, gemeinsam zu essen und zu trinken. Recetas Urbanas gründete er damals, um durch nachhaltiges und gemeinschaftliches Bauen das Stadtbild seiner Heimatstadt Sevilla zu verbessern. Alle Bevölkerungsschichten sollen die Möglichkeit haben, an der Gestaltung ihrer Stadt mitzuwirken. Mittlerweile bauen er und sein Team überall auf der Welt. Von Bauregulierungen und Bürokratie hält Santi wenig. Er arbeitet am liebsten mit seiner „Crazy Army“. So nennt er alle Menschen, die man normalerweise nicht auf einer Baustelle antreffen würde. „Architektur hat immer auch einen sozialen Aspekt“, betont er im Gespräch. In Madrid arbeitet das Kollektiv zurzeit mit autistischen Menschen zusammen. Santi möchte durch seine Arbeit zeigen, dass sich die Gestaltung von öffentlichen Räumen mehr an der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen orientieren sollte. Ziel seiner Arbeit als Architekt ist es, Probleme offenzulegen und der Politik vorzuführen, dass es auch alternative Möglichkeiten des Bauens gibt. Auf seiner Website veröffentlicht das Kollektiv regelmäßig seine „urbanen Rezepte“, Bauanleitungen für Gartenanlagen, kleine Hütten oder Spielplätze. Recetas Urbanas arbeitet eng mit Schulen, sozialen Einrichtungen und Kulturvereinen zusammen. Dass das Kollektiv von der OFF-Biennale Budapest eingeladen wurde, gehört zum Konzept der „Lumbung Member“. Diese wurden vom Kuratorenteam Ruangrupa vernetzt, um eine kollaborative und interdisziplinäre Plattform für zeitgenössische Kunst zu entwickeln.

Schüler Grundschule Kassel Documenta Fifteen
Die Schüler sind stolz, bei der diesjährigen Documenta mit dabei zu sein. Wenn die „Alles-Brücke“ fertig ist, wollen die beiden wiederkommen und sie ihren Familien zeigen. © Fiona Körner

Seit 2015 setzt sich die OFF-Biennale für die Stärkung der Unabhängigkeit der lokalen Kunstszene in Ungarn ein. Durch Kooperationen und ortsgebundene Projekte unterstützen sie nicht nur Kunstschaffende, sondern auch Studierende und Forschende. Dabei arbeiten Hajnalka Somogyi, die dort als Kuratorin tätig ist, und ihre Kolleginnen und Kollegen komplett unabhängig vom Staat. Von der Regierung des Landes halten sie sich weitestgehend fern, bewerben sich nicht für staatlich finanzierte Fördermittel und beschreiben sich selbst als Graswurzel-Biennale. Während die Kinder immer noch fleißig an der Brücke bohren, erklärt Hajnalka auf einer Bank vor dem Bootshaus, dass der Name „OFF-Biennale“ einerseits den Begriff „Off-modern“ der Kulturwissenschaftlerin Svetlana Boym aufgreife, anderseits aber auch für eine Biennale abseits des Mainstreams stehe. Boyms Konzept bezeichnet einen Umweg in unerforschte Potenziale eines modernen Projekts – eine Beschreibung, die auch auf die Mentalität und Arbeitsweise der OFF-Biennale zutrifft. Aufgrund der politischen Situation sieht sich das Team gezwungen, alternative Wege einzuschlagen und neue Strukturen zu etablieren.

Alles-Brücke Ahoi Documenta Fifteen
Das Team bei der Arbeit. Die ersten Stufen der Brücke sind schon zu erkennen. © Fiona Körner

Auch ihr Weg zur Documenta ist bezeichnend: 2018 begegneten sich Hajnalka und Farid Rakun von Ruangrupa zum ersten Mal auf einer Konferenz in Prag. Ein Jahr später kam er nach Budapest, um dort am ersten Visitors Program der OFF-Biennale teilzunehmen. Wieder ein Jahr später wird die Gruppe aus Budapest zum Lumbung Member. Nachdem das Team den Bootsverleih Ahoi als Standort auserkoren hatte, war für sie schnell klar, dass hier ein großer Spielplatz entstehen sollte. Wichtig war ihnen dabei, einen Ort zu gestalten, an dem die Menschen sich gerne aufhalten und Zeit verbringen möchten. Damit knüpfen sie an die zweite Ausgabe der OFF-Biennale mit dem Titel „Gaudiopolis“ von 2017 an. Gaudiopolis, die Stadt der Freude, war eine selbst verwaltete Kinder- und Jugendrepublik in Budapest von 1945 bis 1950. Es ist die Geschichte einer gelebten Utopie, in der Kinder im zerstörten Nachkriegseuropa ihren Lebensalltag selbstständig meisterten und ihre eigenen Ideen von Demokratie verwirklichen konnten. Spiele, Gemeinschaft und freies Gestalten sind seitdem allgegenwärtig in den Aktivitäten der OFF-Biennale. Mit der „Alles-Brücke“ als Spielplatz für Kinder von Kindern greifen sie diese Konzepte nun in Kassel erneut auf.

Bootsverleih Ahoi Documenta Fifteen
Der Blick vom anderen Ufer der Fulda auf den Bootsverleih Ahoi. © Fiona Körner

Nach getaner Arbeit und einem großen Stück Pizza schnallen sich die kleinen Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter wieder ihre Rucksäcke um und laufen zurück zum Unterricht. Morgen ist die nächste Gruppe an der Reihe. Beide Kollektive lehnen den Festivalcharakter ab, bei dem am Ende alles wieder abgerissen wird oder einfach verschwindet. So wie Oldenburgs Spitzhacke wird auch die „Alles-Brücke“ die hundert Tage der Documenta überdauern. Am Ende des Sommers wird sie in zwei Teile geteilt und auf den Schulhöfen der Unterneustädter Grundschule wieder aufgebaut werden. Santi und sein Team werden dort die beiden Hälften zu einem alternativen Outdoor-Klassenzimmer umwandeln. So rücken die beiden Standorte der Schule, wenn auch nur symbolisch, ein wenig näher zusammen. Die Brücke vereint Ruangrupas Lumbung-Werte wie Freundschaft und Nachhaltigkeit mit einer Portion Ruhe und Gemütlichkeit. Hoffentlich strahlt etwas davon auf das hektische Kunstpublikum ab, das sie diesen Sommer erklimmen wird.

Service

AUSSTELLUNG

Documenta Fifteen, Kassel

18. Juni bis 25. September

documenta-fifteen.de

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