Documenta Fifteen

„Die Schleimspur der Kolonisation“

Die Künstlerin Chang En-Man realisiert auf der Documenta ein Projekt mit Riesenschnecken. Wir sprachen mit ihr über kulinarische Traditionen, eingewanderte Spezies und den Kampf der indigenen Bevölkerung von Taiwan

Von Lisa Zeitz
03.06.2022

Neben der Schnecke ist in Ihren Werken das Kreuzstichmuster ein wiederkehrendes Element, das auch in Kassel eine Rolle spielen wird. Auch dieses Muster ist Teil einer Kultur, die verschiedene Kontinente verbindet. Sie haben in diesem Muster sogar eine Tätowierung auf dem Unterarm, einen Stern, der mich an ein Ornament auf einem Norwegerpullover erinnert. Was hat es damit auf sich?

Es ist schwierig zu sagen, wo in der Welt vor Jahrhunderten die Kreuzstickerei begonnen hat. Es ist so wie mit den Glas- und Keramikperlen, die ich als Kette und als Armband an mir trage. Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Holländer Teile von Taiwan erobert, vielleicht haben sie Kreuzstich und Glasperlen hier eingeführt. Der Kreuzstich spielt auch in den Ornamenten der nordamerikanischen indigenen Völker eine Rolle. Es könnte alles eine Quelle haben. Meine Tätowierung hat ein junger indigener Künstler aus Kanada nach einem kanadischen Muster geschaffen. (Sie schaut auf ihrem Handy nach.) Er heißt Dion Kaszas aus der Gruppe der Nlaka’pamux. Dort ist es Tradition, einen Faden einzufärben und die Tätowierung in die Haut einzunähen.

Hoffentlich unter Narkose?

Es hat nicht so sehr wehgetan.

Wie kamen Sie zum Video als Medium Ihrer Kunst?

Als ich die Heimat meiner Mutter besucht habe, habe ich viele verschiedene Stämme dort in der Nähe besucht. Es lag nahe, diese Besuche mit Video zu dokumentieren.

Wir sitzen hier auf dem Gelände des Ahoi-Bootsverleihs. War Ihnen von Anfang an klar, dass Sie hier ein Projekt mit einem Boot machen würden?

Ja, weil mir das Thema Navigation wichtig war. Handel und Austausch sind mit der Seefahrt verbunden, das Boot ist ein Symbol dafür. Navigation bringt Inspiration, kann aber auch Schocks verursachen. Ursprünglich hatte ich geplant, dass Leute auf das Boot kommen können und zusammen mit dem Kapitän über die Fulda fahren, aber das ist nicht erlaubt. Das ist okay für mich, denn die Besucherinnen und Besucher können in ihrer Fantasie auf Reisen gehen.

Wie wird das Boot aussehen?

Von außen sieht das Boot aus wie ein Schneckenhaus. Auf die gläserne Oberfläche sind die Blätter des Maulbeerbaums gemalt. Die indigenen Völker nutzen die Blätter des Maulbeerbaums, um den Schleim von den Schnecken abzuwischen. Der Maulbeerbaum ist einheimisches Gewächs in Taiwan. Es ist für mich interessant, dass wir eine einheimische Pflanze nutzen, um mit einer invasiven Art umzugehen. Wir sind die ursprünglichen Austronesier, von Taiwan aus sind unsere Vorfahren bis in die Philippinen, nach Australien und Malaysia gesegelt, bis zu den Osterinseln und nach Madagaskar. Diese Routen sind verwoben mit den Routen, die die Afrikanischen Riesenschnecken zurückgelegt haben. Das Boot ist für mich ein Symbol für das Netzwerk. Natürlich kann nicht all das sichtbar werden, aber das ist der Hintergrund der Idee. Der Schleim einer Schnecke ist für mich wie die Spur der Kolonisation.

Chang En-Man Fresh Snail Documenta Fifteen
Ein Foto von Chang En-Mans Performance „Fresh Snail" im Hong-Gah Museum in Taipeh. © Courtesy the artist

Was hat der Maulbeerbaum für eine Bedeutung?

Der Maulbeerbaum wird auch an Vieh verfüttert, aus der Rinde wird Kleidung gefertigt. Für die austronesischen Menschen ist der Baum sehr wichtig.

Schnecken mit ihren hübschen Häusern können auch niedlich sein. Was für Gefühle haben Sie für das individuelle Tier? 

In einem meiner Kunstprojekte habe ich kleine Architekturen direkt auf Schneckenhäuser von lebenden Schnecken geklebt und sie mit Grünzeug gefüttert. Ich kann nicht sagen, dass ich jemals eine Schnecke als Haustier gehalten habe, aber ich beobachte sie sehr gerne. Wenn sie langsam wie in Slow Motion ihre Fühler bewegen,  erinnert mich das immer an die Kunst von Bill Viola.

Bringen Sie lebende Schnecken nach Kassel?

Nein, das hatte ich nie vor, ich wollte nur das Konzept mitbringen. Es ist die Schnecke, die mich auf diese Reise mitgenommen hat, nicht andersherum. Ich sammle hier auch Ideen und Geschichten, auch zu den Arten, die sich hier ausbreiten, wie etwa der Waschbär …

… oder die Nilgans, die mit ihren kleinen Küken gerade hier neben uns über die Fulda schwimmt, auch so ein „Neozoon.“ Die Nähe von Menschen und wilden Tieren kann auch problematisch sein, man muss nur an Corona denken. Gehen Ihre Recherchen auch in diese Richtung?

Es gibt einen gefährlichen, potenziell tödlichen Parasiten, den Ratten-Lungenwurm, der von Schnecken übertragen werden kann, wenn sie nicht sorgfältig gesäubert und gekocht sind. Die indigenen Kulturen haben aber gelernt, wie die Schnecken als günstige Eiweißquelle dienen können. Die Ausbreitung der Schnecke hat mehr als eine Seite. Wie bei so vielem geht es um die Ko-Existenz.

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