Ausstellungen

Munch in London: Wilder Ritt durch die Techniken

Das British Museum zeigt Edvard Munchs Druckgrafik – erstmals seit 45 Jahren

Von Gerd Presler
08.07.2019

Als am 21. Juni 2016 das eher kleine lithografische Blatt „Geschrei – Ich fühlte das grosze Geschrei durch die Natur“ von Edvard Munch für mehr als 3 Millionen Euro bei Sotheby’s London versteigert wurde, mag sich so mancher, vor allem auch im Vereinigten Königreich, die Augen gerieben haben. Eine unglaubliche Entwicklung – im Bereich des Preises und vor allem auch der künstlerischen Wertschätzung. Einigen kam vielleicht jener Brief ins Gedächtnis, den der Hamburger Jurist und Landgerichtsdirektor Gustav Schiefler 1903 an Edvard Munch gesandt hatte – und in dem er um ein Exemplar eben jener Lithografie bat. Munch antwortete damals auf den Wunsch des Freundes: „Lieber Herr Landrichter. Das Geschrei kosten 80 Mk, als ich wenige Drucke haben.“

Munch, der druckgrafische Experimentator

Es mag sein, dass das British Museum mit der Ausstellung „Edvard Munch: love and angst“ nun, drei Jahre nach der Auktion, auf diesen sensationellen Zuschlag reagiert hat: Seit dem 11. April ist dort „The Scream“ – das neben der Mona Lisa wohl bekannteste Motiv der Kunstgeschichte – zusammen mit weiteren 82 Hauptwerken des schweigsamen Norwegers zu sehen. Die Kuratorin Giulia Bartrum konnte auf absolute Spitzenwerke im grafischen Schaffen Munchs zugreifen. Das Munch-Museum Oslo mit seinem überreichen Besitz – vom „Geschrei“ finden sich im Haus an der Töyengata allein fünf Exemplare – erwies sich als großzügiger Leihgeber.

Mitgewandert sind zwei Lithosteine und eine Kupferplatte aus dem Nachlass des Künstlers. Kostbarkeiten, die die druckgrafischen Blätter „Vampire II“ (1895), „Madonna“ (1895), „Head by Head“ (1905) begleiten und Einblick geben in die „Werkstatt“ des Künstlers. Gerade „Vampire II“ (Abb.) zeigt, zu welchen Kühnheiten und wagemutigen Neuerungen Munch fähig war: Nachdem er das Blatt von zwei Steinen schwarz und rot gedruckt hatte, führte er die farbliche Gestaltung weiter, druckte in vier Arbeitsgängen eingefärbte Holzstöcke über die Lithofassung, um schließlich die Endfassung zu erreichen, in die er mit Hilfe von Schablonen letzte Farbvariationen einfügte. Ein wilder Ritt durch die Techniken mit immer neuen Abwandlungen, in denen sich bis dahin ungenutzte Möglichkeiten verbargen.

Munch – der unbekümmerte Experimentator auf der Suche nach zuvor nie gewagten Ausdrucksmöglichkeiten: Hier tobt er sich aus, hier greift er zu allen Mitteln, kombiniert und variiert unersättlich. In Deutschland besitzen Museen in Berlin, Bremen, Chemnitz, Essen, Frankfurt a. M., Hamburg, Stuttgart und Wuppertal solche Abzüge. Aber: Allein 73 Varianten / Fassungen von „Vampire II“ beherbergt das Munch Museum in Oslo. Ungewöhnlich viele Lithosteine Munchs sind erhalten geblieben. Normalerweise werden sie nach Gebrauch abgeschliffen, um Platz für andere Arbeiten zu schaffen – aber Munch beschloss, die Kontrolle über sie zu behalten. Und das hieß: Er wollte jederzeit weiterarbeiten können; er wollte sich immer neu inspirieren lassen von der Wucht und dem Geheimnis des Steins, des Holzstocks und der Kupferplatte. Druckgrafik als schöpferisches Ereignis.

Das Geschrei der Welt

Giulia Bartrum und ihre Kollegin in Oslo, Ute Kuhlemann Falck, nutzten die Präsentation des Jahrhundertwerks „Geschrei“ zu einer schon lange fälligen Richtigstellung: In diesem Werk geht es nicht um die Darstellung des individuellen Schreis einer Person. Das Geschrei kommt vielmehr aus allem, was die Person umgibt. Die Figur versucht, das Geschrei abzublocken. Sie erscheint geschlechtslos – entindividualisiert. Und das ist vielleicht der Grund, weswegen sie zum Symbol der Angst werden konnte. Weltweit.

Service

Ausstellung

„Edvard Munch: love and angst“

bis 21. Juli
British Museum, London

Dieser Beitrag erschien in

KUNST UND AUKTIONEN Nr. 11/2019

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