Ausstellungen

Die Gedanken sind frei

Die Bundeskunsthalle folgt Ernst Ludwig Kirchner auf Reisen, die er selbst nie unternommen hat

Von Angelika Storm-Rusche
14.12.2018

Nein, diese schrillen Berliner Straßenszenen, die Ernst Ludwig Kirchners Ruhm als führender Expressionist begründet haben, sind trotz der Vielzahl von 220 Werken nicht zu sehen. Die Bonner Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner – Erträumte Reisen“ geht weit darüber hinaus; sie setzt vielmehr auf die große Vielfalt seines Œuvres als Maler, Zeichner, Druckgrafiker, Designer, Fotograf und Bildhauer – zuweilen in der Wechselwirkung verschiedener Medien. Man kann sie auch als Biografie in Bildern verstehen. Und sie zeigt umfassend den grundlegenden Stilwandel, den Kirchner seit den Zwanzigerjahren vollzog. Der schöne Titel „Erträumte Reisen“ würdigt einen fantasiebegabten Künstler, den es nicht wie seine Malerfreunde der Gruppe „Die Brücke“ in exotische Fernen oder quer durch Europa gezogen hat. Kirchner reiste in seiner Imagination – tatsächlich allenfalls im eigenen Land und nach 1916/17 in der Schweiz, wo er bis zu seinem Freitod blieb. 1925 führten ihn seine Fantasiereisen offenbar weit zurück in die Vergangenheit, als er das Triptychon „Badende Frauen“, mit dem die Ausstellung beginnt, noch einmal überarbeitet haben soll (was angesichts stilistischer Ungereimtheiten nicht überzeugt). Ist es eine Erinnerung an die Jugendzeiten mit den Freunden der Künstlergruppe „Die Brücke“?

Akte zeigen Kirchners Idealvorstellungen

Damals, seit 1904 bei den Moritzburger Seen und seit 1908 auf der Insel Fehmarn, wetteiferten die angehenden Maler – sie waren ja eigentlich Architekturstudenten – in den berüchtigten „Viertelstundenakten“. 15 Minuten lang harrten die Kindfrauen – Fränzi und Marcella sollten später einige Berühmtheit erlangen – in einer Pose aus, ehe sie eine neue einnehmen durften. Mehr Zeit gab’s dann auch nicht für so einen hingekritzelten Akt. Fränzi war 13, als Kirchner die „Badende am Fehmarnstrand“ zeichnete. Älter sind die Modelle der „Zwei Akte an einem Baum“, 1913 gemalt, wohl auch nicht. Unschuldig und spielerisch, so sieht es zumindest aus, verkörpern sie das Ideal des Künstlers vom ungezwungenen und ursprünglichen Leben in freier Natur. Noch tragen sie diesen splittrigen Pinselstrich vor, den Kirchner im Triptychon der Badenden gänzlich ablegen wird. Hier sind die jungen, schon erwachsenen Frauen, die wie unbeobachtet ihr Bad genießen, flächig mit geschmeidigen Konturen und mit reduzierter Palette gemalt. Dass sie in Bonn gemeinsam auftreten, gilt als kleine Sensation, denn sie sind aus Museen in Bern, Davos und Washington angereist.

Kritischer Blick auf Kirchners Inspirationsquellen

Das „Unmittelbare und Unverfälschte“ hatten die Künstler der Brücke in ihrem Manifest propagiert. Und eben das glaubten sie auch in den ethnografischen Sammlungen des Dresdner Völkerkundemuseums zu finden, wo man damals recht unbefangen mit den kolonialen Artefakten der „Naturvölker“ umging; und dies nicht nur mit den Objekten, sondern auch mit leibhaftigen Akteuren in den Völkerschauen (bis 1912 war sogar von Menschenzoos die Rede). Gewiss noch ohne Unrechtsbewusstsein malte Kirchner um 1910 eine nackte „Negertänzerin“, die sich neben einer kauernden „Negerin“ und einer bekleideten hellhäutigen Tänzerin biegt. Sein schwarzes Modell Milly, von dem man bezeichnenderweise nur den Vornamen kennt, ist in Gemälden nackt und bekleidet überliefert: „primitiv“ und „zivilisiert“, heißt es kritisch im Katalog. Die Fotografie „Die Artisten Milly und Sam in Kirchners Atelier, Berliner Straße 80, Dresden“ bestätigt seinen – aus heutiger Sicht – rassistischen Umgang mit den Modellen. Die ebenfalls anonyme dunkelhäutige Nelly fehlt auf dem Bild.

Stilwandel im bildhauerischen Werk

Das Dresdner Museum für Völkerkunde hat Vitrinen mit etlichen Objekten nach Bonn geschickt, die Kirchner inspiriert haben könnten, ohne auf Reisen gehen zu müssen. Hier sieht man die Vorbilder für exotisch anmutende Drucke wie den Holzschnitt „Frau mit Negerplastik“ oder eine „Figur mit Kind“ für seine Holzskulpturen. 1911 schnitzte er eine „Tanzende“, mit der Baselitz oder Balkenhol es keinesfalls aufnehmen können. Auch Kirchner hat die Urwüchsigkeit des Holzes ausgenutzt. Seine Figuren wirken jedoch nicht „ungehobelt“, ihnen ist individuelle Ausdruckskraft zu eigen. Im bildhauerischen Spätwerk der Dreißigerjahre, das mit hierzulande weitgehend unbekannten Skulpturen präsent ist, wird der Holzschnitzer Kirchner einen markanten Stilwechsel vollziehen. Er glättet die ehemals schrundigen Oberflächen. Seine „Liegende“ hat eine geradezu seidige Epidermis. Bemerkenswert ist, wie er die Körperformen der Maserung angepasst hat.

Das Berliner Atelier wird zum Refugium

1911 verlegte Ernst Ludwig Kirchner seinen Lebensmittelpunkt von Dresden in die Metropole Berlin. In seinem Atelier richtete er eine höchst unkonventionelle Gegenwelt zur lauten, quirligen Großstadt ein, ein exotisches Refugium. Hier trafen sich Gleichgesinnte, seine Freunde und die freizügigen Modelle. Im Varieté-Milieu lernte er seine Lebensgefährtin Erna Schilling kennen. 1913 löste sich die Künstlergemeinschaft der „Brücke“ auf. Da schien ihm der Boden unter den Füßen zu entgleiten. Mit giftgrünem Absinthglas gleicht das berühmte Gemälde „Der Trinker“ von 1914 einem Bekenntnis zu seiner Existenzangst – als hätte er seinen durch den Krieg ausgelösten desolaten Seelenzustand schon geahnt. Er versteckte sich hinter den negroiden Gesichtszügen des Schwarzen Sam und in einer Art Clownsgewand.

Trauma und Krankheit

„Unfreiwillig freiwillig“ meldete er sich nämlich erst 1915 zum Militär. Damit war das Ende seiner künstlichen Idylle in Berlin endgültig besiegelt. Den Krieg nannte er einen „blutigen Karneval“. Nach Maskerade aber war ihm nun gar nicht mehr zumute; noch im selben Jahr wurde er wegen einer psychischen Krankheit entlassen. Es folgte: Ein Kriegstrauma mit – modern gesagt – Burnout, Tabak-, Alkohol- und Drogenmissbrauch. In den Krieg musste er nicht mehr ziehen; stattdessen warteten etliche Kuren in Sanatorien auf ihn, 1917 zuletzt in Davos, wo er sich 1918 endgültig mit der Lebensgefährtin Erna, die sich Kirchner nennen durfte, niederließ.

Ein Bett für Erna Kirchner

Auch den folgenden zwei Jahrzehnten gibt die Ausstellung weiten Raum. Prunkstück ist hier das „Bett für Erna“ aus dem Kirchner Museum Davos. 1919 hatte der Künstler während ihrer Abwesenheit begonnen, es aus Arven- und Lärchenholz zu schnitzen: „Arbeit am Bett. Ich behaue die Langhölzer. Wie viel weiter sind doch die Neger in diesen Schnitzereien.“ Offenbar hatte Kirchner sich selbst einem Wettbewerb mit afrikanischen Holzskulpturen gestellt – mit imponierendem Ergebnis. Kopf- und Fußende sind in dichtem Hochrelief, die Füße figürlich wie Karyatiden und Atlanten gearbeitet. Nur eine Langseite zeigt sich als Flachrelief mit bevölkertem Alpenpanorama wie ein Zugeständnis an die neue Heimat. Die aber bietet dem Maler die Motive der wunderbaren Bergwelt.

Die Gipfel und mit Tannen bestandenen Abhänge des „Sertigtal im Herbst“ verleiteten ihn 1925 / 26 noch einmal zu jenem expressionistischen Stil der heftigen, „fedrigen“ Pinselhiebe. Das Gemälde feiert ein Fest der Farben, selbstredend mit „falschen“ Lokalfarben. Ganz abgeschieden lebte Kirchner nicht in Davos: Künstler wie Henry van de Velde oder Oskar Schlemmer kamen zu Besuch; er selbst fuhr 1925/26 noch einmal nach Deutschland.

Sportliche Motive im „Neuen Stil“

Dass er überaus bewusst seinen „Neuen Stil“ vorantrieb, lässt sich seinen sechs Texten ablesen, die er von 1920 bis 1933 Louis de Marsalle, einem eigens erfundenen französischen Intellektuellen, gleichsam in die Feder diktierte. Sein Alter Ego konnte den Wandel seiner Kunst aus unabhängigem Geist und von außen erläutern und rechtfertigen. Jetzt ließ Kirchner alles Nervöse, Kleinteilige hinter sich – allerdings mit der Ausnahme der Textilentwürfe, die von Lise Gujer und Helene Spengler umgesetzt wurden. Die Grafiken und vor allem die Gemälde sind formal „beruhigt“. Die flächigen Binnenformen werden von festen Konturen gehalten. Darum kann ein Bild wie „Großes Liebespaar“ an Picassos klassizistische Periode erinnern. Auffällig ist die thematische Hinwendung zum Sport aller Art. Beredtes Beispiel des ausdrücklich gewollten „Neuen Stils“ ist das „Akrobatenpaar“, das in seiner Wechselwirkung den Künstler als „Peintre-Sculpteur“ vorführt. Er konnte sein Motiv gleichermaßen als Gemälde in lyrischem Kolorit und als Schnitzwerk mit geschliffener Oberfläche virtuos umsetzen.

Die große Vielfalt des künstlerischen Werks

Obwohl Kirchner in der Schweiz lebte, blieb er nicht von den Repressalien der Nazis verschont. Seit 1937 wurden 639 Werke aus deutschen Museen entfernt. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wuchs seine Angst vor einem Einmarsch der Deutschen in die Schweiz. Ehe er seinem Leben im Juni 1938 ein Ende setzte, zerstörte er etliche Druckstöcke und einige Skulpturen – 80 Jahre später stellt ihn die aktuelle Ausstellung überzeugend an die Seite der ganz großen Künstler des 20. Jahrhunderts.

Service

Ausstellung

„Ernst Ludwig Kirchner – Erträumte Reisen“
Bundeskunsthalle, Bonn
bis 3. März 2019

Dieser Beitrag erschien in

Kunst und Auktionen Nur. 20/2018

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