Per Du mit Duchamp

„Das Louis-Vuitton-Projekt ist mein Urinal“

Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In Folge 7 geht es um fauliges Obst und Duchamps große Bedeutung für die zeitgenössische asiatische Kunst

Von Thomas Girst
28.11.2024

Vor bald 200 Jahren schrieb Schillers Frau Charlotte in einem Brief an Goethe von der Eigenart ihres Mannes, faulende Äpfel in seiner Schreibtischschublade aufzubewahren, deren Duft ihn inspiriere. Mittlerweile ist verwesendes Obst auch in der Kunst selber angekommen. Mit „Strange Fruit“ (1992–97) gibt Zoe Leonard rund 300 zusammengenähte Obstschalen dem organischen Zersetzungsprozess anheim. Maurizio Cattelans „Comedian“ (2019), eine mit Klebeband an einer Wand befestigte Banane, die mit der Zeit von Gelb zu Schwarz changiert, wurde bei Sotheby’s in New York gerade für 6,2 Millionen Dollar versteigert. Die Künstlerin Yuko Mohri präsentierte dieses Jahr auf der Venedig Biennale im japanischen Pavillon Decomposition, verkabelte Früchte, deren Verfaulen durch in ihnen befindliche Elektroden Klänge und Farben erzeugt. Bereits 1959 hatte Marcel Duchamp die Kleinplastik „Sculpture Morte“ geschaffen, die vergängliches Miniaturobst und -gemüse aus Marzipan in einem gläsernen Schaukasten präsentiert. Die darauf drapierten Insekten sowie der Titel weisen die Skulptur als originelles Memento Mori aus.

Maurizo Cattelan als Erbe Duchamps

Nun wollen wir bei aller Duchamphagiographie ganz und gar nicht davon ausgehen, dass sich Cattelan und Mohri genau davon haben inspirieren lassen. Gleichwohl muss auch kein Hehl daraus gemacht werden, dass Ersterer als Thronfolger Duchamps im 21. Jahrhundert gilt, was Skandal, Provokation, klugen Witz und den subversiven Umgang mit dem Kunstmarkt anbelangt, von dem er selber, na klar, unglaublich profitiert. Cattelan spielt zudem wie kein zweiter auf der Klaviatur von Duchamp-Referenzen. Die altgediente Guggenheim-Kuratorin Nancy Spector verlor beinahe ihren Job, als sie Donald Trump in dessen erster Amtszeit als US-Präsident Cattelans Arbeit „America“ (2016) als Leihgabe anbot, ein komplett funktionsfähiges Klo aus 18-karätigem Gold.

Marcel Duchamps Skulptur von 1917. © Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Marcel Duchamps Skulptur von 1917. © Association Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Die Toilettenskulptur bleibt indes nach deren Diebstahl aus einem britischen Schloss genauso verschollen wie 100 Jahre zuvor schon Marcel Duchamps nie wieder aufgetauchtes Urinal „Fountain“ (1917), auf das sich „America“ direkt bezieht. Und was Yuko Mohri anbelangt, so breitet sie derzeit in einem riesigen Raum im sechsten Stock des Tokioter Artizon Museum als Herzstück ihrer Ausstellung „On Physis“ (bis 9. Februar) ihre über ein Jahrzehnt bestehende Beschäftigung mit Duchamp vor der Betrachterin in Gestalt kinetischer Skulpturen aus, die sich allesamt auf seine Hauptwerke und Readymades beziehen. Die Junggesellenmaschine, die Schokoladenreibe, die Oculist Witnesses, die Draft Pistons, der Splash – Duchamps Vokabular und Formenvokabular ist allüberall. „Zum Leben erweckt“, wie die Künstlerin sagt, die Maschinerien inklusive biografischer Bezüge reich an Eros und Tiefgründigkeit geschaffen hat, die begeistern.

Vordenker der Videokunst?

„Duchamp hat alles gemacht“ erklärte Nam June Paik schon 1975 in einem Interview, „außer Videokunst“, weswegen dieser sich als Pionier der Medientechnik durchaus im Geiste des Avantgardisten verdient machte. Seine Frau Shigeko Kubota, ebenfalls Videokünstlerin, schuf zahlreiche Werke mit direkten Bezügen zu Duchamp, ob sie 1972 sein Grab auf dem Cimitière Monumental in Rouen mit der Aufschrift „Übrigens sterben immer die Anderen“ filmte und dabei weinend aus dem Off zu hören ist (Marcel Duchamp’s Grave, 1972–75) oder mit Duchampiana: „Nude Descending a Staircase“ (1991) über vier in Holzstufen integrierte Monitore dessen berühmtestes Gemälde im Bewegtbild wieder auferstehen lässt.

Der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija wiederum zeigte zuletzt in seiner Ausstellung „A Lot of People“ bei Luma Arles in diesem Sommer drei an die Wand geschraubte Chrompissoirs (Untitled, 2015, long live american rock’n’roll! fuck england!), seine Arbeiten künden auch sonst oft von seiner Auseinandersetzung mit Duchamps Readymades. „Was ich tue, ist, Duchamps Pissoir zu nehmen, es wieder an die Wand zu hängen und hineinzupinkeln“, erklärte er kürzlich lächelnd. Das kann übrigens auch bar jeder visuellen Konnotation völlig konzeptionell gedacht sein, etwa als der japanische Künstler Takashi Murakami 2007 anlässlich seiner Kollaboration mit einem französischen Luxusmodelabel, bei der er die Logos auf den Taschen wie mit Graffiti übermalte, verkündete: „Das Louis-Vuitton-Projekt ist mein Urinal!“

„America“ von Cattelan
„America“ von Cattelan. © wikimedia

Duchamp in Asien

Verweilen wir in Asien. Das Hongkonger Museum M+ konnte bereits vor Jahren über hundert Werke und Dokumente Duchamps aus der Sammlung Francis M. Naumanns erwerben und zeigt seit Mitte November bereits eine zweite Online-Schau zum Œuvre des Künstlers, das sie mit gut einem Dutzend Künstlerinnen der eigenen Kollektion verknüpft. Derweil sind dort in der Doppelausstellung Masquerades neben jenen von Cindy Sherman ebenfalls die Fotografien von Yasumasa Morimura zu sehen (bis 5. Mai). 1988 ließ er sich für das Selbstportrait „Doublonnage (Marcel)“ (1988) in Anlehnung an Man Rays berühmte Fotografie „Marcel Duchamp als Rrose Selavy“ (1920/21) ablichten. In China selbst formierte sich bereits 1986 Xiamen Dada, sein Protagonist Huang Yong Ping, 2019 im Exil in Paris verstorben, sah wie vor ihm der Avantgardemusiker John Cage zahlreiche Bezüge zwischen Duchamp und dem Buddhismus. Dessen „Fountain“ wurde schon 1917 als „Buddha of the Bathroom“ betitelt und Huang Yong Ping inszeniert in seiner monumentalen Skulptur „Die hundert Arme des Guan-yin“ (1997) ein anderes Readymade Duchamps, den „Flaschentrockner“ (1914), so wie sich Cao Fei in ihrer „RMB City“ (2009–2011) auf der Internetplattform Second Life des „Fahrrad-Rads“ (1913) annimmt.

„Über den Einfluss Duchamps in der zeitgenössischen chinesischen Kunst zu sprechen“, so Phil Tinari im Vorwort seiner Ausstellung „Duchamp and/or/in China“ im Pekinger UCCA 2013, „ist so als würde man über die Bedeutung des Internets in unserem täglichen Leben sprechen: beides ist überall“. Ob der chinesische Maler Shi Xinning in seinem Gemälde „Duchamp Retrospective Exhibition in China“ (2000/2001) einen staunenden Mao neben „Fountain“ zeigt oder sich Lin Tianmiao dem visuellen Vokabular Duchamps letzter Installation „Gegeben sei…“ (1945–1966) bedient – tatsächlich sehr viel Duchamp, wohin man auch schaut. Bei Wang Xinwei, Wang Luyan und Zheng Guogu, bei Yan Lei und Zhao Zhao. Und natürlich setzt sich ebenso Ai Weiwei bereits im fünften Jahrzehnt mit dem Uravantgardisten auseinander, wovon Dutzende Werke zeugen. Angefangen mit „Portrait of Marcel Duchamp in a Coat Hanger“ (1986) bis hin zu „Good Fences Make Good Neighbors“ (2017), eine Skulptur, die auf Duchamps Design für die Tür von André Bretons Pariser Galerie Gradiva (1937) beruht. „Duchamp hatte des Fahrradrad, Ich habe ein totalitäres Regime. Das ist mein Readymade”, wie Chinas wichtigster Künstler einmal feststellte.

Ai Weiwei's „Sunflower Seeds“ in der Tate Modern
Ai Weiwei's „Sunflower Seeds“ in der Tate Modern. © wikimedia

Obst wiederum hat Ai Weiwei bislang kaum interessiert, bis auf seine Wassermelonen aus glasiertem Porzellan (ab 2006), die sich symbolisch auf politisch verfolgte Dissidenten in China beziehen sollen. Der Künstler ließ diese in Jingdezhen fertigen, ebenso wie dort wenig später seine 100 Millionen handbemalten Sonnenblumenkerne für eine Installation in der Turbine Hall von Londons Tate Modern. Seine „Sunflower Seeds“ bedeckten 2010/11 eine Fläche von über tausend Quadratmeter des ehemaligen Kraftwerks. Geplant war, dass sich alle Besucherinnen darauf frei bewegen können. Gesundheitsbedenken bezüglich des entstehenden Staubs der sich dabei zerreibenden Feinkeramiken führten kurz nach der Eröffnung allerdings zum Verbot einer Begehung.

Daran wiederum hätte Duchamp womöglich seine Freude gehabt. 1920 sammelte dieser in seinem New Yorker Apartment über ein Jahr Staub für die aufwendige Entstehung seines Hauptwerks auf Glas, „Die Braut von ihren Junggesellen entblösst, sogar“ (1915–1923), was sein Fotografenfreund Man Ray wiederum in der Fotografie Staubzucht für die Nachwelt festhielt. Fussel und Flusen gelten bis heute als typisches Merkmal von Junggesellenwohnungen. Solange dort aber nicht auch noch Äpfel in Schubladen verfaulen, wollen wir jetzt mal kulant darüber hinwegsehen.

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