Jean Tinguely

Meister der Maschine

Das Museum Tinguely hat seine Sammlung neu inszeniert. Zu entdecken ist die kunstvolle Beweglichkeit des Namensgebers

Von Tim Ackermann
05.06.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 211

Man darf sich nichts vormachen: Mit seinen humorvollen Maschinen, die er 1978 als wassersprühenden „Fasnachtsbrunnen“ in der Basler Altstadt installierte, ist Tinguely am Ende ein bisschen zum Staatskünstler arriviert. Umso erstaunlicher, wie unsanft er angegangen wurde, als er zum ersten Mal in seinem Heimatland ausstellte – im Sommer 1960 gemeinsam mit Norbert Kricke und Bernhard Luginbühl in der Kunsthalle Bern. „Und das soll Kunst sein?“, lautete die Leitfrage einer Radiodiskussion, die man im biografischen Teil der Dauerschau nachhören kann. Im Raum stand der Verdacht der Jugendkorrumpierung durch Altmetallplastiken. Tinguely hatte soeben die Schrottplätze als Materiallieferanten entdeckt. Er selbst sieht seine Werke politisch: „Ich glaube, dass die jungen Leute in diesen ausgestellten Apparaten eine kleine Attacke gesehen haben auf all die Kühlschränke und Automobile und Radio- und Fernsehposten und unsere ganze industrielle, automatische Ausrüstung, die wir nun langsam anfangen, immer mächtiger auszubauen.“

Im Herbst desselben Jahres gehörte Tinguely zu den Mitunterzeichnern der Gründungserklärung des Nouveau Réalisme in der Pariser Wohnung von Yves Klein. Mit ihrer Verehrung des objèt trouvé, im geistigen Rückgriff auf Duchamp und Dada, setzten die Nouveaux Réalistes einen Kontrapunkt zum gedankenlosen Konsumismus und Fortschrittsglauben des Wirtschaftswunderzeitalters. Ausgedrückte Farbtuben bei Arman, abgerissene Plakate bei Francois Dufrêne oder die wie eingefroren konservierten Esstisch-Stillleben von Daniel Spoerri – kein Alltagsgegenstand war verbraucht genug, um nicht als Werk an der Wand zu landen. Aus Abfall wird Kunst. Der Kreislauf
von Destruktion und Kreation. Und der Künstler löst wie ein Magier die Transformation aus. Kinder erfassen so etwas intuitiv: Von den klangerzeugenden Wasserrädern, die Tinguely als kleiner Junge an Bächen im Wald baute, finden sich manche Spuren in seinen späteren Werken. Man kann das gut an der Konstruktionsskizze „Métamechanisches Lautrelief“ (ca. 1955/1958) erkennen – einer von rund 2000 Arbeiten auf Papier, die das Museum bewahrt.

Die Freude der Kinder an der partizipativen Kunst ist übrigens in jedem Ausstellungsraum leibhaftig zu erleben. „Ein Viertel unserer Besucherinnen und Besucher sind Kinder und Jugendliche“, sagt Roland Wetzel. Das ist enorm für ein Kunstmuseum, und wer mitbekommt, wie ein Enkel seiner Oma stolz berichtet, dass er „heute schon fünf angemacht“ habe, der begreift schnell: Es herrscht ein knallharter Wettbewerb um die Fußschalter, deren Signallampen je nach Betriebsbereitschaft grün oder rot leuchten. Also konzentriert man sich entweder gleich auf die Besuchsrandzeiten, oder man hängt sich an die kleine sprintende Meute dran, die erwartungsgemäß alle verfügbaren Kunstwerke in einer Ecke gleichzeitig auslösen wird. Was immerhin ein wunderschönes Klanggewitter erzeugt.

Geräusche sind ohnehin eine wichtige Komponente in den Werken von Tinguely. Gebannt steht das Publikum im letzten Ausstellungskapitel vor mehreren seiner monumentalen Musikmaschinen, die in einem großen Raum installiert sind. Bei „Klamauk“ (1979) oder „Fatamorgana, Méta-Harmonie IV“ (1985) fallen Hämmer in unregelmäßigen Abständen auf Ölfässer, Mülleimer oder Kuhglocken. Es klingt wie die erratischen Zuckungen eines abdriftenden Jazz-Schlagzeugers. Aber eigentlich hat jede Werkphase ihren eigenen Sound: Bei den Reliefs wie „Wundermaschine, Méta-Kandinsky I“ von 1956 hört man nur das hohe Sirren des Elektromotors und das sanfte Brummen der Transmissionsriemen. Die theatralisch aufgesockelten und schwarz bemalten Eisenskulpturen aus der Mitte der Sechzigerjahre, wie „Hannibal II“ von 1967, quietschen wie eine alte Draisine. Und in seinen morbiden Spätwerken setzte Tinguely neben Tierschädeln auch Geräusche erzählerisch ein: So dreht sich bei „Schreckenskarrette – Viva Ferrari“ (1985) unter einem zerfetzten Lkw-Reifen ein hölzernes Rad, und ein daran befestigter Karabinerhaken schlägt bei jeder Runde an ein Metallstück. So markiert ein regelmäßig wiederkehrender Klirrton das unbarmherzige Verrinnen der Zeit.

Als größter Radaumacher entpuppt sich allerdings Tinguelys „Ballet des pauvres“: In dieser Großskulptur aus dem Jahr 1960 hängen Alltagsdinge wie durchlöcherte Kessel, zerbeulte Backformen oder das Bein einer Schaufensterpuppe an Schnüren von der Decke. Per Zeitschaltuhr aktiviert, fangen sie urplötzlich an, wild zu hüpfen. Gelegentlich fällt mal ein Teil ab. Dann wird es im Schauatelier der Restaurierung aufbewahrt, das zum Tinguely-Kompetenzzentrum des Hauses gehört. Mit der Frage, wie man das Werk eines Künstlers lebendig hält, das auf Abnutzung und zum Teil mutwillige Zerstörung ausgerichtet ist, beschäftigt man sich hier ständig. Eine Antwort ist umsichtige Reparatur durch den Restaurator Jean-Marc Gaillard, der einst Tinguelys Assistent war. Doch manchmal bleibt eben nur die Stilllegung: In einem kleinen Videofilm neben dem „Relief métamécanique sonore II“ von 1955 demonstriert Restauratorin Chantal Willi zwar dessen Funktionalität, spricht aber auch vom Verhakungspotenzial der Zahnräder und den Sollbruchstellen zwischen Mechanik und Dekorationselementen. „All diese Faktoren führen dazu, dass wir dieses Werk alle 20 Jahre nur einmal laufen lassen können“, bilanziert sie. Fußschalter ausgeschlossen. Als Ausgleich gibt es in der Schau noch zahlreiche weitere Filme, die Tinguelys anarchistischen Spirit für die Nachwelt festgehalten haben. So kann man ihm bei seinen berühmten Aktionen zuschauen – etwa der im März 1960, als er im Garten des Museum of Modern Art in New York eine seiner Maschinen in Brand setzte: Kreation durch Destruktion! Das war einmal. Heute legt niemand mehr Feuer an einen Tinguely.

„Das einzige wahre Problem der K. ist nicht der Künstler, nicht das Kunstwerk, nicht der Sammler, nicht der Kunstmuseumsdirektor, nicht der Kunsthändler, es ist nicht der Kunstkritiker & nicht der Kunsthistoriker – nicht der KunstFEIND“, schreibt Jean Tinguely um 1962 auf ein Skizzenblatt: „Das einzige Problem ist der Kunst-Museums Aufseher, denn er langweilt sich. Also muss für ihn Kunst gemacht werden, die ihn mit einschließt & ihn beschäftigt.“ Im Museum Tinguely schreitet der überaus nette Aufseher unaufgefordert zur Skulptur „Frigo Duchamp“ (1960) und öffnet die Kühlschranktür. Im Inneren geht ein rotes Licht an, und eine Sirene fängt an zu heulen. Das Publikum schaut in den Bauch der Höllenmaschine. Der Museumswärter schmunzelt. Dann schließt er die Tür wieder.

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