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Bevor Hitler das rosa Kaninchen stahl

Die Bücher der einst aus Nazi-Deutschland geflohenen britischen Kinderbuchautorin und Illustratorin Judith Kerr prägten Generationen von Briten und Deutschen. Nun wäre sie 100 Jahre alt geworden. Kerrs Kinderzeichnungen aus der British Library zeigen ihre Welt vor dem Terror und Exil

Von Weltkunst News
13.06.2023

Sie brachte das Thema der Judenverfolgung durch die Nazis in deutsche Unterstufen-Klassenzimmer und zeigte den Briten, dass Lesenlernen Spaß machen kann. Die Kinderbuchautorin und Illustratorin Judith Kerr („Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“) wäre an diesem Mittwoch 100 Jahre alt geworden.

Dass die 2019 im Alter von 95 Jahren gestorbene Kerr überhaupt das Erwachsenenalter erreichte – und nicht von den Nazis ermordet wurde – verdankte sie einem „irrsinnigen Glück“, wie sie später oft betonte. In eine jüdische Familie in Berlin geboren, musste sie kurz vor der Machtergreifung Hitlers fliehen. Über die Schweiz und Frankreich gelangte sie 1936 nach Großbritannien.

Die Flucht aus Deutschland gelang nur, weil ihr Vater von einem Polizisten per Telefon gewarnt worden war. Der spätere Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte den renommierten Theaterkritiker Alfred Kerr schon vor der Machtergreifung Hitlers auf die Todesliste gesetzt. Die Geschichte der Flucht und des neuen Lebens im Exil machte Judith Kerr zur Grundlage ihres teilweise autobiografischen Buchs über die neunjährige Anna, die ihr rosa Stoff-Kaninchen auf der Flucht zurücklassen muss. Später wurde daraus eine Trilogie.

Bis zu ihrem Tod 2019 hatte Judith Kerr den Wunsch, dem anonymen Anrufer zu danken, wie ihre Freundin Deborah Vietor-Engländer im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur kurz vor dem 100. Geburtstag erzählt. „Sie hatte nie die Möglichkeit, sich bei diesem Polizisten zu bedanken. Und das hätte sie liebend gerne getan“, sagt die pensionierte Literaturwissenschaftlerin aus Großbritannien, deren Familie ebenfalls vor den Nazis fliehen musste, die aber inzwischen in Deutschland lebt.

Kerrs Dankbarkeit galt aber besonders auch den Briten, die sie mit großer Hilfsbereitschaft aufnahmen. Kerr nahm nicht nur die Staatsbürgerschaft an, sie heiratete den britischen Screenwriter Nigel Kneale, gründete eine Familie und wurde eine der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen des Landes. Bis zu ihrem Tod lebte sie in London. Ihr Sohn Matthew wurde selbst Schriftsteller, Tochter Tacy ist Malerin.

Im Vereinigten Königreich ist sie jedoch sehr viel besser bekannt durch die illustrierten Kinderbücher „Ein Tiger kommt zum Tee“ und die Geschichten über den eigenwilligen Kater Mog. Warum diese Bilderbücher bei den Briten so gut ankamen, weiß Vietor-Engländer genau: „In England gab es ganz dumme Bücher zum Lesenlernen. Die hatte ich in der Schule auch“, erinnert sie sich und fügt hinzu: „So kam sie darauf, Bücher zu schreiben für kleine Kinder, die lesen lernen.“

Vietor-Engländers Freundschaft mit Kerr entstand über die Forschung der heute 76-Jährigen zum Leben und Werk Alfred Kerrs (1867 – 1948), über den sie 2016 ein im Rowohlt-Verlag erschienenes Buch („Alfred Kerr – Die Biographie“) veröffentlichte.

Die enge Verbindung zu ihrem Vater spielte für Kerr zeitlebens eine große Rolle, wie Vietor-Engländer bestätigt. Noch auf dem Totenbett habe sie ein Gedicht rezitiert, das der geliebte „Papa“ für sie einst geschrieben hatte. Im englischen Exil war der Liebhaber der deutschen Sprache zumindest beruflich jedoch zur Bedeutungslosigkeit verdammt.

Eindrucksvoll beschrieb seine Tochter Judith in ihren Büchern über die Flucht und das Leben im Exil, wie die Suche nach Schutz vor Verfolgung und das Bedürfnis, Arbeit und Brot zu finden, nicht voneinander zu trennen waren. Aus wirtschaftlichen Gründen zog die Familie von Frankreich weiter nach Großbritannien – „das hat uns das Leben gerettet, wären wir in Frankreich geblieben, hätten uns die Deutschen erwischt“, sagte sie einmal.

Nach Deutschland zurück zog es Judith Kerr auch nach Ende des Krieges nur sporadisch. Lange war ihr das Land der Täter unheimlich. Das änderte sich aber mit dem Erfolg des Buchs um das rosa Kaninchen, für das sie 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt und das zur Pflichtlektüre in deutschen Klassenzimmern wurde. Später wurde eine Grundschule in Berlin nach ihr benannt.

Auch dass Alfred Kerr lange nach seinem Tod in seiner Heimat Deutschland wiederentdeckt wurde, war für Judith Kerr „wahnsinnig wichtig“, bestätigt Vietor-Engländer. Den Ausschlag gab eine Veröffentlichung seiner Briefe, die der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki mit dem Satz adelte: „Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nach diesem Buch neu geschrieben werden.“ Die Tantiemen aus seinen posthum veröffentlichten Werken reichten Judith und ihr Bruder Michael an die Alfred-Kerr-Stiftung weiter, der Vietor-Engländer vorsteht. Die Stiftung vergibt jährlich einen mit 5000 Euro dotierten Darsteller-Preis in Berlin. (dpa)

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