Er ist kein Spiegelbild und auch kein Abbild, weit mehr als nur Gegenspieler des Lichts. Seit gut zweieinhalbtausend Jahren versuchen Philosophen wie Künstler, das Geheimnis des Schattens zu ergründen. Welche Rolle spielt er in der Malerei?
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05.01.2023
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 20/22
Seit der Renaissance waren Schatten dann in der Malerei wie in der Grafik endgültig heimisch. Baccio Bandinelli hat das mit der nächtlichen Akademieszene, die von Enea Vico gestochen wurde, eindrucksvoll festgehalten. Durch das Kaminfeuer wie die dicke Kerze auf dem Tisch entstehen von den Zeichnenden wie von Hund, Skelett und den Gegenständen am Boden scharf konturierte Schatten. Wobei mehrere Spielarten zu unterscheiden sind. Das eine sind die sanften Übergänge, die Abschattierungen von Weiß zu Schwarz, um plastische Strukturen zu modellieren. Sie konkurrieren mit dem harten Kontrast der Schlagschatten, die seit Caravaggio die Schlaglichter, mit denen die zentrale Szene hervorgehoben wird, besonders betonen. Und dazu kommen die Personalschatten in vielerlei Gestalt. Als treues Anhängsel oder – wie bei Chamisso und Andersen – als ein Es, das zum verhängnisvollen Über-Ich werden kann. In der Emblematik wird das mit Sinnsprüchen vom Schatten, den man nicht einholen, dem man nicht entfliehen und über den man nicht springen kann, paraphrasiert. Aber auch jenes Raffinement, das viele Maler lieben, um einer Person oder sich selbst einen Ausdruck des Geheimnisvollen zu verleihen, ist nicht zu übersehen: das Verschatten des Gesichts bei Porträts. Rembrandt hat das Saskia (Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden) und Jan Six (Sammlung Six, Amsterdam) zugestanden. Und vor allem sich selbst bei gemalten und gestochenen Selbstbildnissen. Auch bei Lovis Corinth und Max Beckmann liegen oft die Augenpartie oder das Gesicht im Schatten. Und der junge Joshua Reynolds blickt, indem er mit der Linken die Augen beschattet, dem Betrachter fragend ins Gesicht (National Portrait Gallery, London).
Der Schatten ist, das deutet vielerlei Aberglauben an, weit mehr als nur Gegenspieler des Lichts. Er dient als Liebeszauber, kündigt den Tod an und kann ihn bei seiner Missachtung auch herbeiführen. In der Antike wurde dem Schatten der Hyäne eine besondere Macht zugetraut. So würden Mensch und Tier erstarren, wenn sie auf einen Hyäne-Schatten träten. Und Hunde fange die Hyäne, indem sie bei Mondlicht ihren Schatten auf sie fallen lasse – „und von da an kann sie mit ihnen machen, was sie will.“
Gleichsam eine säkularisierte Variante ist das japanische Kinderspiel „kage-fumi“ (auf den Schatten treten). Es wurde meist nachmittags im Herbst, wenn die Schatten sehr lang sind, gespielt. Wie in hiesigen Breiten beim „Haschen / Nachlaufen“ gilt es, den anderen zu fangen, jedoch nicht durch Antippen, sondern indem man auf den Schatten tritt. Diese tiefdunklen Schatten sind jedoch nicht gemeint, wenn Tanziki Jun’ichiro mit seinem Essay Lob des Schattens den „Entwurf einer japanischen Ästhetik“ skizziert. Für ihn, dem das grelle Licht elektrischer Lampen ein Greuel war, „gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung der Schatten“. Nicht der Kontrast zwischen Licht und Schatten, sondern die Hell-Dunkel-Nuancen entsprechen diesem Ideal. Jedoch nur in Räumen. Nicht in der Kunst, die – wie die chinesische – kaum Schatten kennt. Es sei denn als Schattenwurf von Außenstehenden auf die mit Papier bespannten Schiebetüren (Shoji) bei den unterhaltsamen Farbholzschnitten. Oder die Omocha-e Hiroshiges – unter anderem mit Anregungen für Kinder, die Hände so vor eine Lichtquelle zu halten, dass sie als Schatten zu Tieren oder Monstern werden.
Samuel van Hoogstraten, jeglichem malerischen Augentrug zugetan, hat bereits in seiner Schilderkonst von 1678 ein Schattentheater entworfen, bei dem – der Kupferstich ist da nicht eindeutig – Schauspieler oder ausgeschnittene Figuren je nach ihrem Abstand zum Licht kleine und riesige Schatten auf die Bühnenrückwand werfen. Und als Europa im späten Rokoko der Chinoiserie verfiel, wurden auch die „Ombres chinoise“, die bewegten Schatten, als Unterhaltung wie als Kinderspiel heimisch. Schließlich war man inzwischen mit Schattenrissen und Silhouetten vertraut. Die märchenhaften Scherenschnittfilme von Lotte Reiniger wie die dämonischen Schatten in Stummfilmen wie „Das Cabinett des Dr. Caligari“ und „Nosferatu“, die seit den 1920er-Jahren die Leinwand bevölkerten, sind ein Strang dieser Verwandtschaft. Dem anderen begegnet man in der gegenwärtigen Kunst bei Installationen von Christian Boltanski und William Kentridge, die mit wandernden Schatten die jüngste Geschichte künstlerisch zu fassen und zu überhöhen versuchen.
In der Malerei aber haben es die Schatten schwer, sich – so paradox das klingt – ins rechte Licht zu setzen. Selbst bei den Orientalisten, obwohl sie ein Faible für die sonnenüberstrahlten Landschaften haben, finden sich oft nur Andeutungen von Schatten. Dagegen scheinen es die Maler, die sich den Innenräumen zuwenden, auf Schattenwirkungen angelegt zu haben. Bei Georg Friedrich Kerstings „Junger Frau, beim Schein einer Lampe nähend“ (Neue Pinakothek, München), bei Adolph Menzels „Balkonzimmer“ (Alte Nationalgalerie, Berlin), bei Vilhelm Hammershois Interieurs kommen die Schatten, die den Räumen Plastizität verleihen, zu ihrem Recht. Und als besonderen Effekt wissen William Holman Hunt und Jean-Léon Gérôme die Schatten einzusetzen. Der eine, indem er den jungen Christus mit erhobenen Armen in Josephs Werkstatt ins Sonnenlicht stellt, sodass als Vorahnung der Kreuzigung sein „Schatten des Todes“ auf der Wand erscheint (Art Gallery, Leeds). Und der andere, indem er lediglich die Schatten der Kreuze und der Gekreuzigten auf dem Wüstenboden malt, während die Zuschauer des Spektakels im Mittelgrund bereits nach Jerusalem zurückkehren (Musée d’Orsay, Paris).
Die nachfolgende Generation der Klassischen Moderne hielt nichts von solchen Mystifikationen. Sie ist gewissermaßen aus dem Schatten getreten. Zwar gönnt de Chirico ihm noch manchen großen Auftritt. Auch darf er sich gelegentlich bei Dalì sehen lassen oder bei Hockney und Hopper eine Stippvisite machen. Aber Widerspruch gegen das Licht, dem er seine Existenz verdankt, eine eigene Erzählung, ein Spiel mit den Möglichkeiten, anders zu erscheinen als der Körper, dem er vorangeht oder folgt – diese Chance wird nicht genutzt. Manchmal ist er einfach da, oft erscheint er jedoch nicht einmal dort, wo er eigentlich nicht zu übersehen sein dürfte. Schatten suchen könnte deshalb in einem Museum ein unterhaltsames Spiel sein, um die Bilder zu befragen, ob sie denn keine Schattenseiten kennten. Denn – so Karl Kraus: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge einen Schatten.“