Fund meines Lebens

Geschmuggelte Absurdität

Mit diesem Bild veränderte sich Kristian Jarmuscheks Blick auf politische Systeme und die Kraft der Kunst

Von Jan Kohlhaas
02.09.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 13/22

Was war Ihre bislang überraschendste Entdeckung?

Kristian Jarmuschek Das erste Mal sah ich das Bild als Kind bei Freunden meiner Eltern im Wohnzimmer. Monika und Sieghard Liebe haben mehrere Fotobände und Reiseberichte publiziert und durften in der DDR gelegentlich Reisen in das nichtsozialistische Ausland unternehmen. Ihre Fotoberichte und Filme haben mich fasziniert und eine Sehnsucht nach Reisen und Kunst geweckt. Im Jahr 1983 war Sieghard Liebe Teil einer Reisedelegation der DDR nach Nordkorea. Zurück von dieser Reise in eines der bis heute unsichtbarsten Länder der Welt brachte er eine gelbe Box mit Fotos mit nach Erfurt. Dass es diese Fotos überhaupt gibt, hatte Sieghard nur seiner Intuition zu verdanken. Andere Fotografen ließen ihre Filmrollen tagsüber in den Hotelzimmern und mussten dann zurück in der DDR feststellen, dass man die Aufnahmen zerstört hatte. Sieghard hatte seine Filmrollen immer dabei und rettete somit seine Aufnahmen. Eine davon ist der Fund meines Lebens.

Welchen historischen / materiellen Wert besitzt das Foto?

Kristian Jarmuschek Die Aufnahme spiegelt für mich die ganze Absurdität und menschenverachtende Intention des nordkoreanischen Staats wider. Sie zeigt das Großmonument des „Großen Führers“. Die 20 Meter hohe Bronzefigur Kim Il-Sungs wurde vor dem Koreanischen Revolutionsmuseum auf dem Mansu-Hügel aufgestellt und im April 1972 zum 60. Geburtstag des Staatsoberhaupts eingeweiht.

Sieghard Liebe
„Die Aufnahme spiegelt für mich die ganze Absurdität und menschenverachtende Intention des nordkoreanischen Staats wider“, sagt Kristian Jarmuschek über die Fotografie Sieghard Liebes. © Sieghard Liebe

Ursprünglich mit Blattgold beschichtet, entfernte man jedoch die Goldschicht nach Kritik seitens der chinesischen Regierung, die Nordkorea damals finanziell unterstützte. Zu Füßen des Monuments fegt eine Frau mit einem Reisbesen um den Sockel dieser völlig überdimensionierten, jedes menschliche Maß verloren habenden Statue.

Wo und wie haben Sie das Foto entdeckt?

Kristian Jarmuschek Wiederentdeckt habe ich es im März 2000, als Sieghard mich in Berlin besuchte, die gelbe Fotobox unterm Arm. Ich erinnerte mich sofort an die Blicke meiner Kindheit und wollte es unbedingt haben. Sieghard schenkte mir den Einzeldruck unter der Maßgabe, es sichtbar aufzuhängen.

Wo befindet es sich heute?

Kristian Jarmuschek An zentraler Stelle in unserer Wohnung. Es bekommt viel Aufmerksamkeit!

Hat sich durch die Entdeckung etwas für Sie verändert?

Kristian Jarmuschek Es beschreibt für mich den diametralen Unterschied zwischen Selbsteinschätzung und Wahrnehmung des geheimnisvollen Staats. Ich habe beim Blick auf das Bild verstanden, wie wir die Welt durch ein einzelnes Foto begreifen können.

Kristian Jarmuschek
Kristian Jarmuschek ist Galerist in Berlin. Mit seinem Team organisiert er seit 2016 die POSITIONS Berlin Art Fair und die paper postions in Berlin, Hamburg, München, Basel. Seit 2013 ist er Vorsitzender des Bundesverbands deutscher Galerien und Kunsthändler. Vom 15. bis 18. September findet die 9. Ausgabe der POSITIONS Berlin im ehemaligen Flughafen Tempelhof statt. © Clara Wenzel-Theiler

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