Die Vulkaninsel Ischia im Golf von Neapel war in den Fünfzigerjahren ein Refugium für deutsche Maler. Nach dem Schrecken des Krieges genossen sie hier ein freies Leben – als Künstler und als Liebende
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01.07.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 132
Ob die Männer sich auch in Privates vertieft haben? Sowohl der Vater von Bargheer als auch der von Gilles und Peiffer Watenphuls Stiefvater waren Lehrer. Die Künstlerlaufbahn war ihren Eltern nicht geheuer: Peiffer Watenphul promovierte, bevor er Künstler wurde, in Kirchenrecht, Bargheer und Poll wurden Kunstlehrer. Wie diese drei Künstler war auch Hermann Poll homosexuell – in einer Zeit, als man in Deutschland noch lange in Furcht vor dem diskriminierenden Paragraphen 175 leben musste. Der Golf von Neapel bot ihnen, wie schon Generationen vor ihnen, auch in dieser Hinsicht Zuflucht. Aus ihrer sexuellen Orientierung haben sie kein öffentliches Thema gemacht. Bargheer drückte sich so aus: „Die Kunst ist eine unbarmherzige Geliebte. Sie duldet keinen Nebenbuhler neben sich.“
Wenn sie sich abends zu Wein, Brot, Fisch und Käse, zum Beispiel in der kleinen Hafenwirtschaft eines Kalabresen in Porto d’Ischia trafen, begrüßten sich der kahle Purrmann und der weißhaarige Gilles „wie zwei Großmächte“, so erinnert sich Göpel. Befreundete Mächte, muss man dazu sagen, denn als Menschen und Künstler schätzten sie sich sehr. Zu den Malerfreunden gesellte sich auch gerne der Friseur Luigi de Angelis, der ebenfalls zum Künstler wurde. Purrmann bestärkte ihn im Malen und besaß einige seiner naiven Werke, ebenso wie Hermann Poll, in dessen Nachlass sich religiöse Motive des Frisörs befinden. Insgeheim waren sie sich aber einig, dass de Angelis noch ein besserer Maler war, als sie ihn noch nicht verdorben hatten.
Die Gespräche drehten sich vor allem um die Kunst – im Allgemeinen und um die Werke, mit denen sie sich aktuell beschäftigten. Vielleicht hat Purrmann bei solchen Gelegenheiten Erkenntnisse mit den anderen geteilt, die er von seinem Freund Matisse hatte, etwa dass ein Bild drei Stadien habe: „Das erste, scheinbar gelungene. Das zweite, in dem es ein Chaos ist. Das dritte Stadium erreichen nur wenige Bilder; es ist der wiedergewonnene erste Zustand, bewusst, geglückt.“
Auch Renoir zitierte Purrmann gerne: „Wer ein Bild drei Monate beiseitegestellt hat und dann noch nicht weiß, wo der Fehler steckt, der soll das Malen lassen.“ In Purrmanns Malerei, und übrigens auch in der von Hermann Poll, ist unverkennbar der französische Einfluss zu spüren. Etwas von den leuchtenden, schwelgerischen Farben, die in Purrmanns Malerei Matisse anklingen lassen, scheint auf Ischia auch auf Werner Gilles übergesprungen zu sein.
Für die jüngeren Künstlerkollegen war dagegen das Bauhaus ein stärkerer Einfluss. Gilles und Peiffer Watenphul hatten am Bauhaus in Weimar studiert und waren, wie Bargheer, mit Paul Klee bekannt. Peiffer Watenphul hatte sich in Weimar auch mit Töpferei und Weberei beschäftigt. Man sieht seinen Werken diese haptischen Strukturen an: Malerei auf Rupfen, gekritzelte Linien unter den aquarellierten Pigmenten, wie bei einem groben Stoff. Oft haben seine Bilder die stimmungsvolle Aura alter Fresken, an denen der Zahn der Zeit schon genagt hat.
Ischia war für Bargheer ein Schlüssel für seine Entwicklung. Die Insel habe ihm, sagte er selbst, wieder ein Maß gegeben, die Formen und Dinge im Zusammenhang mit Meer und Himmel zu sehen, „in vielfach statischen und dynamischen Beziehungen, vertikal horizontal, sodass ein ‚Gewebe‘ entsteht“. Damit meinte er „bei Gott kein dekoratives Problem, sondern geradezu ein metaphysisches“.
Manchmal, so kann man sich vorstellen, unterbrachen die Künstler ihre Unterhaltung. Aus der Küche wurden Schwertfisch, Artischocken oder Kaninchen serviert, dazu gab es den frischen, erdigen Weißwein, der auf Ischia angebaut wird. Am späteren Abend sangen Matrosen neapolitanische Liebeslieder. Nicht nur vergangene Erfahrungen und Erlebnisse kamen zur Sprache. Auch der Stand der zeitgenössischen Avantgarde wurde diskutiert. Die Entwicklung der Moderne, auch die ihrer eigenen Kunst, war durch den Nazi-Terror unterbrochen worden.
Sie hatten überlebt, aber auf einmal lebten sie in einer Zeit, in der die Abstraktion als Kunst der Freiheit im Westen gefeiert wurde. „Die Krüge auf dem Tisch wurden schneller geleert, die Diskussionen hitziger“, schreibt Göpel, „und das brennende Problem jener Jahre, abstrakt oder gegenständlich, rückte in den Mittelpunkt der Debatte.“ Bargheer nahm, anders als die anderen Künstler, schon 1948 an der Biennale in Venedig teil, sodass er, der auch „Magier im Zwischenreich“ genannt wurde, mit der internationalen Nachkriegsmoderne früher als die anderen Kontakte hatte.
Auf der ersten Documenta in Kassel 1955 war eine Serie von Bildern ausgestellt, die die Entwicklung vom Gegenständlichen zum Abstrakten illustrierte: Unter anderem zählten, in dieser Reihenfolge, Purrmann, Werner Heldt, Gilles und Bargheer dazu. (Der Berliner Künstler Werner Heldt war im Jahr zuvor nur 49-jährig gestorben, als er Gilles auf Ischia besuchte.) Der Siegeszug der Abstraktion ließ sich nicht aufhalten. Auf der zweiten Documenta 1959 war schon viel weniger gegenständliche Kunst vertreten. Zwar hielten die „Landschafter“ auf Ischia im Grunde am Sujet fest, doch Purrmann hat oft darüber gesprochen, dass für ihn die Freiheit des Informel, dem er als Juror des Künstlerbundes begegnete, sehr anregend war. Als dem alten Mann der Orden Pour le Mérite verliehen wurde, vermutete er in der Auszeichnung auch eine „Stellungnahme gegen die Abstrakten“. Für ihn ein Graus, denn er kannte „nur gute und schlechte Maler“. Mit dieser Einschätzung war Purrmann seiner Zeit voraus. Figürlich oder abstrakt: Heute spielt die Frage keine Rolle mehr. Also Zeit für einen frischen Blick auf die Fünfzigerjahre! Und auf das Kunstgeschehen von Ischia.
„Passione e Destino. Aufbruch des Fotografen Herbert List und des Malers Eduard Bargheer in die mediterrane Welt“,
bis 18. September,
Bargheer Museum, Hamburg