Kunstwissen

Schere, Kleber und Papier

Im 18. Jahrhundert waren Ausschneidebögen waren eine Mode mit Suchtpotential. Die gedruckten Motive wurden auf Möbel geklebt oder in Alben gesammelt

Von Gloria Ehret
16.03.2020

Das man mit Papier und Schere alles hervorzaubern kann! Scherenschnitte, Schattenrisse, Klosterarbeiten, Spitzenbilder, Papiertheater, -krippen, Hampelmänner, Soldaten, Anziehpuppen und vieles mehr wurde über Generationen zum unterhaltsamen oder didaktischen Zeitvertreib mit Geduld, Geschick und geübter Hand aus Papier geschnitten. Im 18. Jahrhundert erlebte die Mode des Ausschneidens einen wahren Hype. Selbst die Herren am Versailler Hof wurden davon befallen, bevor der Umgang mit Schere und Papier bürgerliche Familien beschäftigte, zum Kinderspiel und somit zum Vorläufer des Bilderbuchs avancierte.

Auf einem Kabinettschrank im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg sind ausgeschnittene Kupferstiche aufgeklebt, Abbildung: Monika Runge/Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Edgar Biella/Bayerisches Nationalmusem München, Inv. Nr. 2009/173
Auf einem Kabinettschrank im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg sind ausgeschnittene Kupferstiche aufgeklebt, Abbildung: Monika Runge/Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Edgar Biella/Bayerisches Nationalmusem München, Inv. Nr. 2009/173

Süchtig nach Papier und Schere

Grundsätzlich sind die beiden Techniken des freien Papierschneidens und des Ausschneidens zu unterscheiden. Wir beschränken uns auf die beliebten Ausschneidebogen der Kupferstecher und Kunstverleger. Sie brachten ganze Serien zu den verschiedensten Themen. In Paris hieß es 1727: „Hier ist man von der Sucht erfasst, kolorierte Stiche auszuschneiden … man bringt diese Ausschnitte auf Karton an, lackiert das Ganze und macht Wandbehänge, Paravents, Ofenschirme …“ Man favorisierte Maskeraden und Szenen zu den Fabeln La Fontaines sowie Bogen mit Rokokopaaren, die in der Nachfolge Watteaus auf die Liebesinsel Kythera pilgerten. Zu den namhaften Produzenten gehörte die Firma Basset, die bis nach 1860 in diesem Genre tätig war. 

Ausschneidebögen auf Möbeln

Sigrid Metken, der die umfassendste Publikation zum Thema „Geschnittenes Papier“ von 1978 zu verdanken ist, zeigt einen venezianischen Aufsatzschreibschrank im Metropolitan Museum: Auf den ersten Blick ein bemaltes Lackmöbel, entpuppt er sich, mit kolorierten Kupferstichen beklebt, als frühes Arte-povera-Beispiel. Der Nürnberger Verleger Christoph Weigel pries „vorrätige Bilderbogen … alle Personen der ita­lienischen Comödie … zum Ausschneiden für Dames …“ an. Und nicht nur betuchte Großbauern waren Abnehmer von „Florianer Reiterkästen“, deren Türfelder nicht bemalt, sondern mit kolorierten Kupferstichen nach Augsburger Art beklebt waren. 1737 ­annoncierte Jacques Langlois im Pariser Mer­cure: „Die schönsten Ausschneidebogen aus Deutschland“ von dem Augsburger Engelbrecht. Im italienischen Bassano war Re­mondini bekannt für seine Chinoiserien, Früchte- und Blumendekors im Augsburger Geschmack als Möbeldekorationen.

Bilderwelten im Klebealben

Neben kolorierten Kupferstichbogen gab es solche zum Selberausmalen. Die Motive messen 1,5 bis drei Zentimeter. Dazwischengestreute kleine Vögel oder Blumen füllten die Freiräume. Die ausgeschnittenen Einzelmotive ordnete man zu neuen Bildta­bleaus, die auf Karton geklebt und in Alben zusammengefügt werden konnten. Was auf den Bogen nicht verfügbar war, wurde dazugemalt oder -gezeichnet. Vielerorts haben sich entzückende Klebealben erhalten. Komplette, nicht zerschnittene Bogen sind äußerst rar.

Ausgeschnittene Figuren dienten der Dekoration eines Florianer Reiterkastens bei Uppsala Auktionskammare, Abbildung: Uppsala Auktionskammare
Ausgeschnittene Figuren dienten der Dekoration eines Florianer Reiterkastens bei Uppsala Auktionskammare, Abbildung: Uppsala Auktionskammare

In Augsburg, im Barock ein bedeutendes Grafik- und Verlagszentrum mit Sitz einer Akademie, war Martin Engelbrecht (1684–1756) einer der wichtigsten Kunstverleger und Kupferstecher im deutschsprachigen Raum. Seine Grafiken waren so gefragt, dass ihn ein kaiserliches Privileg vor Nachdrucken schützte. Engelbrecht brachte um die 3375 Bogen heraus, die „nach jetziger beliebter Art zum Ausschneiden dienlich“ waren. Das Motivrepertoire umspannte die Götterwelt der Barockoper, biblische Geschichten, die italienische Komödie und Chinoiserien; prächtige Architekturen, Gärten, Pagoden und Ornamente. Die Sujets spiegeln die damaligen Lebenswelten, die Jagd, den Markt, das Landleben bis zu exotischen Tieren und Pflanzen. In Zeiten der napoleonischen Kriege wurden die obligatorischen Soldaten zu ganzen Papierregimentern aufgerüstet. Ungehorsame Augsburger Kinder schüchterte Johann Martin Will mit seinem kolorierten Kupferstich-Ausschneidebogen „Der erboste Vater und Herr und Frau Kinderschreck“ ein.

Martin Engelbrechts Guckkastenblätter (um 1750) erzielten bei Karl & Faber 880 Euro, Abbildung: KARL & FABER Kunstauktionen; Monika Runge/Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
Martin Engelbrechts Guckkastenblätter (um 1750) erzielten bei Karl & Faber 880 Euro, Abbildung: KARL & FABER Kunstauktionen; Monika Runge/Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

Generell zeigen die Bilderwelten die charmante, anmutige Seite des Lebens und blenden die graue Wirklichkeit aus. Besonders reizvoll sind Klebealben, die als Puppenhäuser aus Papier Einblick in die Wohnverhältnisse eines Patrizierhaushaltes bieten. Die Herrschaft ist nach der aktuellen Mode gekleidet. In Augsburg tragen sie die zeit­typische Stadttracht. Arbeiten und Wohnen sind nach Stockwerken getrennt. Die eingeklebten Möbel samt geschweiftem Aufsatzsekretär und bequemem Ohrenbackensessel im Piano nobile könnten heute in einem exklusiven Antiquitätengeschäft stehen. Gemälde, Porträts und Landkarten schmücken die Wände. Prächtige Eisenöfen sorgen für Wärme. Küchenbogen waren besonders beliebt und wurden in Augsburg neben Engelbrecht auch von seinen Kollegen Johann Martin Will, Gottlieb Jakob Heß, Franz Xaver Endreß oder Albrecht Schmid reihenweise verlegt. Heß und Will arbeiteten schon in den 1770ern mit illusionistisch-naturalistischem Schattenwurf, um räumliche Dreidimensionalität zu erzielen. Dienten im 18. Jahrhundert bevorzugt Kupferstiche als Ausschneidebogen, so wurden sie später von Lithografien abgelöst.

Service

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 165/2019

Zur Startseite