Kunstwissen

Das Selfie von damals: Tintorettos „Susanna“

Holger Liebs befragt monatlich berühmte Werke auf ihren aktuellen Gehalt. Diesmal: Was hat Tintorettos „Susanna“ mit der Selfie-Obsession von heute zu tun?

Von Holger Liebs
28.12.2017

Die Überschrift ist natürlich ein Trick. Ein Täuschungsmanöver, um Sie in den Text hineinzuziehen. Ich benutze den Begriff nicht mal gern. Andererseits: Die biblisch einschlägige Susanna macht ja auch nichts anderes, als sich vor einem Screen, der ihr Antlitz widerspiegelt, ins rechte Licht zu setzen. Was Tintoretto 1556 malt – zu sehen im Kunsthistorischen Museum in Wien –, läuft konträr zum traditionellen Deutungsstrang der Erzählung, in der ein unschuldiges Ding sich unbekleidet im Garten wäscht und von greisen Lüstlingen, dummerweise Gesetzeshüter, ausgespäht wird. 

Versunken im Selfie

Was Susanna erst nicht merkt, sie ist ja mit dem Selfie beschäftigt. Die Alten wollen die Verheiratete zum Beischlaf zwingen, sie weigert sich. Die beiden Richter bezichtigen sie öffentlich des Ehebruchs, sie soll hingerichtet werden. Miese Nummer – kommt heute auch noch vor, eher in unaufgeklärteren Gesellschaften. Auftritt des Propheten Daniel: Er startet eine Zeugenbefragung, die Greise verheddern sich in Widersprüche, und nun sind sie es, die sterben müssen. Susanna ist aber auch nicht ohne: kostbares Geschmeide, der Spiegel, damals Anzeichen einer verwöhnten Kurtisane. Tintoretto benutzt das biblische Rührstück nur als Vorwand, um dem voyeuristischen Trieb seines Auftraggebers gerecht zu werden. Bleibt nur offen: Wurde aus der keuschen Susanna aus dem Buch Daniel am Ende rein zufällig der Inbegriff der Verführung? Oder war die Geschichte von Anfang an ein schlecht kaschierter Porno? Und ist es Zufall, dass man sich angesichts vieler Selfies heute ähnliche Fragen stellt?

Service

Dieser Beitrag erschien in

WELTKUNST Nr. 133/2017

Holger Liebs ist Verleger bei Hatje Cantz und befragt für die WELTKUNST berühmte Werke auf ihren aktuellen Gehalt.

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