Kunstwissen

Kunst im Netz - Wenn 1878 heute zu sein scheint

Das Städel in Frankfurt lädt zu einer virtuellen Zeitreise in seine Vergangenheit ein

Von Peter Dittmar
18.11.2016

Die Vergangenheit hat, will man den Dichtern glauben, keine gute Presse. „Das Beste liegt hinter uns und war schlecht“, hat Günter Kunert unlängst angemerkt. Und Goethe lässt Faust dozieren: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit Sieben Siegeln.“ Lohnt es sich also, Einstein ins Unrecht zu setzen, und eine Reise in die Vergangenheit anzutreten? Das Städel in Frankfurt hat sich mit der Internetseite www.zeitreise.staedelmuseum.de darauf eingelassen. Dass man vor dem heimischen Computer zu einem Spaziergang durch ein Museum oder eine Ausstellung eingeladen wird, ist nicht mehr ungewöhnlich. Auch nicht, dass man sich interaktiv dabei bestimmte Themen herauspicken kann. Im Deutschen Museum in München sind das neben dem stummen virtuellen Rundgang zusätzlich von Sprechern erläuterte Abstecher zu Schifffahrt, Luftfahrt und Raumfahrt (digital.deutsches-museum.de). Die Ermitage in St. Petersburg hermitagemuseum.org bietet unter „Virtual Visit“ 360°-Einblicke in 390 Räume auf den drei Etagen im Hauptgebäude wie im Generalstabsgebäude (mit den Impressionisten- und Fauve-Sammlungen von Schtschukin und Morosow), dem Winterpalast Peters I., dem Menschikow Palais und dem Eremitage-Theater. Stets lassen sich bei den Objekten, die mit einem „i“ markiert sind, weitere Informationen abrufen (auch auf Englisch, bis auf die 3. Etage im Hauptgebäude, die sich auf Russisch beschränkt). In gleicher Weise kann man durch das Bode-Museum in Berlin (bode360.smb.museum) oder in Dresden (www.skd.museum/html) über den Link „Museen & Institutionen“ durch die Porzellansammlung im Zwinger, die Galerie Neue Meister im Albertinum oder durch das historische und das neue Grüne Gewölbe flanieren.

Von diesen virtuellen Bestandsaufnahmen des Gegenwärtigen unterscheidet sich jedoch das Städel. Denn die „Zeitreise“ führt ins 19. Jahrhundert. Zuerst in Städels Haus am Rossmarkt in seinem Todesjahr 1816, wo – wie er selbst einmal meinte – „schon alle nur entbehrlichen Zimmer von oben bis unten mit Malereien behängt“ waren. Dann – nach dem Umzug 1833 – in die ehemalige Postmeister-Villa in der Mainzer Straße, wo die Wände hinter kaum weniger eng gehängten Gemälden verschwanden. Und schließlich in den Museums-Neubau von 1878 am gegenwärtigen Standort. Virtuelle Bilder zeigen, wie die Bilderwände jeweils aussahen. Die einzelnen Gemälde lassen sich anklicken, um sie zu vergrößern und dazu knappe Informationen abzurufen. Das Besondere dieser „Zeitreise“ ist jedoch der Blick auf 1878. Weil Pläne, Aufzeichnungen und Fotos erhalten geblieben sind, war es möglich, das Aussehen der Säle und ihre Ausstattung als 3D-Grafik zu rekonstruieren. Deshalb kann man mittels Virtual-Reality-Brille oder am PC (zeitreise.staedelmuseum.de/vr-app/#pc-nutzung) wie ein Besucher anno 1878 durch die Säle, wie sie damals aussahen, schlendern. Entweder als „geführter Rundgang“ mit gesprochenen Erläuterungen oder beim „freien Erkunden“ – bei dem man mit Maus und Pfeiltasten alle Räume aufsuchen und sich ebenfalls Vergrößerungen der einzelnen Gemälde samt Informationen herausklicken kann. Da scheint die Vergangenheit plötzlich noch nicht vergangen – und Günter Kunert wie Goethe werden, jedenfalls in Sachen Kunst, ins Unrecht gesetzt. 

Service

Dieser Beitrag erschien in

KUNST UND AUKTIONEN Nr.19/2016

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