Kunstwissen

Kauft Klassiker des Designs!

Die Entwurfskammer des Designs der Klassischen Moderne wird gerade geplündert – wunderbar, meint KUNST UND AUKTIONEN-Autor Oliver Herwig

Von Oliver Herwig
14.10.2016

Haben Sie schon einen? Oder zwei? Wenn nicht, ist es allerhöchste Eisenbahn. Augenblicklich regnet es Klassiker vom Himmel. Beinahe täglich gehen neue Angebote ein, eines verlockender als das andere. Klassiker sind die neue Ramschware am Designhimmel. Es klingt geradezu unverschämt gut, einen – sagen wir – „Egg Chair“ für gerade einmal 743 Euro zu erwerben. Oder einen „Eames Lounge Chair“, sozusagen den Chef-Klassiker unter den Klassikern, ins Wohnzimmer zu stellen und nicht nur in Wohnzeitschriften zu bewundern. Der Preis dürfte so manchem Möbelhändler des Vertrauens Tränen des Zorns in die Augen treiben: Eine britische Onlineplattform bietet das schwarzbraune Ungetüm für gerade 766 Euro an, nicht ohne zu erwähnen, dass der Preis des Originals 3932 Euro beträgt. Da lohnt es sich, einmal den Taschenrechner auszupacken. Der Preisnachlass beträgt über 80 Prozent. Wie ist das möglich? Und: Was sagt das über uns aus?

In der Regel kommt ein Zwischenhandel auf Margen von 30 bis 40 Prozent, nur Großhändler wie Amazon versuchen, den Schnitt auf 50 Prozent zu heben. Davon müssen Fachhändler aber teure Innenstadtlagen bezahlen, Schaufenster dekorieren, auf Messen fahren, Mitarbeiter schulen und wählerische Kunden ertragen, die von Stück zu Stück wandern, Preisschilder umdrehen, einige Handyfotos machen und das Ganze später viel, viel billiger im Netz kaufen. Margen über 40 Prozent sind also schlichtweg eines: unwirtschaftlich – oder schlichtweg unmoralisch.

Betrachten wir das Online-Angebot genauer, taucht ein winziges Adjektiv auf, zu klein, um angesichts des roten Preisnachlasses groß ins Gewicht zu fallen. Da heißt es etwa: „Inspired“. Meint das nun „frei nach Arne Jacobsen“, „entlehnt bei Charles Eames“ oder „gefunden bei Hans J. Wegner“? Das kleine Wort macht einen großen Unterschied. Es handelt sich offenbar nicht um das Original, es ist etwas anderes, was genau, dazu müsste man nun einen Urheberrechtsexperten befragen: Ein Plagiat? Eine Raubkopie? Tatsache ist, dass es selbst innerhalb der EU verschiedene Formen des Copyrights gibt. Auch hier zeigt schon der Name, welche Intentionen hinter den unterschiedlichen Rechtsnormen stehen: Ein angelsächsisches Copyright regelt die Umstände, unter denen ein Stück reproduziert werden darf, das Urheberrecht hingegen schützt den Rechteinhaber eben vor diesem Fall. Nun mag es für Möbelhändler vielleicht tröstlich sein, dass sich Großbritannien eben aus der EU verabschiedet hat – und Onlinegeschäfte von der Insel in Zukunft etwas schwerer werden. Doch ist das kein Segen, denn etwas Fundamentaleres läuft hier schief. Offenbar gibt es einen Riesenmarkt für das Abgesicherte, durch die Zeit (und 1000 Kommentare) als gut Erwiesene.

Wir sind selbst schuld – warum beten wir die Asche von gestern an?

Klassiker entheben uns der Wahl. Man muss sich nicht bekennen, man muss keine Flagge zeigen, man muss sich nicht mit der Gegenwart herumschlagen und für Neues (Unerprobtes, womöglich Geschmackloses) entscheiden, man beweist Geschmack, indem man Klassiker kauft. Sie sind die Blue Chips des Designs, überzeitlich und anerkannt gut. Tatsächlich ist das aber oft eine Kapitulation vor den Objekten, die im Hier und Jetzt verankert sind. Und vor den Ideen junger Designerinnen und Designer, die schließlich auch noch ihren Stuhl, ihre Leuchte, ihren Hocker verkaufen wollen. Wer Klassiker kauft, ist eben nur vermeintlich auf der richtigen Seite. Wer das online tut, schon gar nicht.

Was also macht einen Klassiker zum Klassiker? Nun, auch vermeintlich überzeitliches Design ist nicht als solches geboren, es wird im Laufe der Zeit passend gemacht. Man muss sich nur die subtilen Veränderungen von Bauhaus-Freischwingern ansehen, die Mal für Mal perfekter auftreten. Bis irgendwann nur noch das Äußere mit dem Vintage-Stuhl zu tun hat. Doch das interessiert uns ja gar nicht. Wir wollen das Abgesicherte, und das zu einem unanständig niedrigen Preis.

Ein Klassiker ist ein Prestige-Objekt. Er muss es sein. Oder nicht? Tatsächlich gibt es jede Menge Klassiker, wie die Wäscheklammer oder den Flaschenöffner, die Haarspange oder die Büroklammer, die den Test der Zeit überstanden haben. Nur sind sie anonym. Wer kennt schon die Frauen und Männer hinter dem Entwurf? Hier greifen Klassiker ein. Sie verweisen mit einem großen Namen auf eine Geschichte, die wir kaufen und ins Wohnzimmer stellen können. Nur, dass diese Geschichte langsam brüchig wird. Die Gier nach dem Einzigartigen erzeugt lieblose Wiederholung. Das erinnert fatal an den wunderbaren Animationsfilm „The Incredibles“, bei dem der ultimative Widersacher, Nemesis, sinngemäß erklärt: Wenn alle Menschen „super“ sind, gibt es niemanden mehr, der wirklich super ist. Wie bei echten oder vermeintlichen Klassikern.

Service

Abbildung:

Lounge Chair 670 mit Ottoman 671, Entwurf Charles Eames, 80x81x94cm und 44x66x58cm, Quittenbaum, München, Auktion 24. Oktober 2015, Zuschlag 4000 Euro (Foto: Quittenbaum, München)

Dieser Beitrag erschien in

KUNST UND AUKTIONEN Nr. 16/2016

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