Kunstwissen

Gegenwärtige Geschichte

Jüdische Bürger haben die Kultur Münchens lange entscheidend geprägt. Als Künstler, Sammler oder Kunsthändler, als Braumeister oder Trachtenschneider. Auch wenn es heute wieder Zeichen jüdischen Lebens in der Stadt gibt – der Kampf gegen das Vergessen geht weiter.

Von Alexandra González
17.10.2016

In der Gegenwart wagt man sich mit der Thematisierung jüdischer Identität manchmal auf dünnes Eis, gerade wenn es um Kunst geht: Ob Mäzen, Experte oder Kreativer, kein Angehöriger der wiedererstarkten Gemeinde lässt sich gern auf sein Jüdischsein reduzieren. Als vor zehn Jahren am Münchener St.-Jakobs-Platz ein offenes Ensemble aus Synagoge, Jüdischem Museum und Gemeindezentrum entstand, setzte man im Herzen der Stadt ein markantes Zeichen. Bis 2006 existierte die Israelitische Kultusgemeinde von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Nun aber war es, als hätte sie ihre Tarnkappe abgenommen. Denn mit 9500 Mitgliedern ist diese Gemeinde nach Berlin die zweitgrößte Deutschlands. 1815 gegründet, blickt sie zurück auf eine wechselvolle Geschichte, die allerdings nur lose im öffentlichen Bewusstsein verankert ist. Dabei haben Menschen jüdischer Herkunft das Bild der Stadt nachhaltig geprägt. Vor allem Künstler, Sammler, Intellektuelle und in hohem Maße auch der Kunst- und Antiquitätenhandel verhalfen München zu internationaler Attraktivität.

 

Den maßgeblichen Anstoß für das Aufblühen jüdischer Kultur lieferte 1871 die staatsbürgerliche Gleichstellung, im Zuge derer sich die Münchner Gemeinde rasant entwickelte und wie in anderen Großstädten eine Kerngruppe des deutschen Bürgertums formte. Mit einer Melange aus Unternehmergeist, Bildung und Sachkenntnis begründeten zahlreiche jüdische Entrepreneure, darunter Bernheimer, Thannhauser, Rosenthal, Helbing und Hirsch, Münchens Ruf als Dorado des Kunsthandels. Museen von Weltrang, Kunstverein und Glaspalast sowie eine florierende Galerienszene ließen die Stadt in der Prinzregentenzeit zur liberalen Kunststadt von europäischem Format reifen.

 

Eine so vielfältige Szene im Spannungsfeld von religiöser Identität und Moderne wie Paris entwickelte sich zwar nie, doch auch München rühmte sich eines Montparnasse: Schwabing um 1900 war ein Auffangbecken für Freigeister, die hier die Fesseln der Bürgerlichkeit sprengten. In der Kaulbachstraße lebte Franziska zu Reventlow mit dem jüdischen Bankierssohn Franz Hessel und dem Maler Bohdan von Suchocki eine Ménage-à-trois aus. Die Boheme traf sich im Salon von Max und Elsa Bernstein oder bei Carry Brachvogel. Konfessionen spielten keine Rolle. Der Soziologe Werner Cahnman, der die Geschichte von Münchens jüdischer Gemeinde erforschte, resümiert: »Es gab Künstler, die sich in der toleranten Atmosphäre von München weder der einen noch der anderen Religionsgemeinschaft, sondern lediglich der Künstlerkolonie zugehörig fühlten«.

Sieben Dekaden nach dem Vernichtungswahn der Nazis gibt es immer noch keine Anzeichen für das Erwachen einer neuen, konsistenten jüdischen Künstlerszene. München ist längst nicht so attraktiv wie das kosmopolitische Berlin, wo das Klima zwischen Rauheit, Nostalgie und Weltoffenheit eine regelrechte Einwanderungswelle auch junger israelischer Künstler ausgelöst hat. Einer Gruppe jüdischer Künstler aus dem deutschsprachigen Raum waren Fragen nach Patchwork-Identitäten und eigenen Ambivalenzen gegenüber dem Jüdischsein durchaus eine ganze Ausstellung wert. »Warum? Warum nicht!« heißt die Schau, die nach Stationen in Rendsburg und Halberstadt 2017 voraussichtlich in der Leipziger Spinnerei zu sehen sein wird. Eine der Beteiligten ist die Münchnerin Ilana Lewitan.

Sie hat in New York gelebt und dort eine große Unbekümmertheit im Umgang mit dem Thema erfahren. In ihrem Atelier im Norden Münchens zeigt uns die Tochter polnischer Schoah-Überlebender Gemälde und Acrylglas-Kuben, in denen Miniaturgegenstände, etwa ein Spielzeugwaggon, aufbewahrt sind. Es fällt schwer, die als hebräische Schriftzeichen, Graffitis, Collagen alter Familienfotos, Abbildungen von Ritualgegenständen gesetzten Botschaften nicht als subtile Einsichten in die jüdische Kultur zu deuten. Doch in Lewitans Werk steckt mehr. In ihren magischen Realismus nimmt sie auch die Erscheinungen am Rande der Wirklichkeit auf. Menschen sind nie ganz losgelöst von der Welt der Dinge. Realitätspartikel wie ineinander verschränkte Finger, Schlösser, Drähte, Stadtsilhouetten flotieren in intensiven Farbräumen. »Natürlich erzähle ich Geschichten, das ist vielleicht das Jüdische daran. Unsere Kultur, die Religion, die Feiertage, alles lebt sehr von Geschichten. Mich stört nur, wenn Leute vor meinen Bildern stehen und angestrengt nach Holocaust-Chiffren suchen.«

Service

Textauszug "Gegenwärtige Geschichte" von Alexandra González. Erschienen in

WELTKUNST Nr.121/2016

Titel Abbildung

© Andreas Gregor

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