Kunsthandel

Galerie Utermann: Sorgfalt und Intuition

Seit über 160 Jahren betreibt die Galerie Utermann ihren Kunsthandel in Dortmund. Was mit Goldleisten begann, hat sich im Lauf der Zeit zu einer ersten Adresse für Expressionisten und Kunst nach 1945 entwickelt.

Von Alexandra González
29.03.2017

An diesem Morgen wird der kurze Fußweg vom Dortmunder Hauptbahnhof bis zur Galerie Utermann zur Belastungsprobe. Ein eiskalter Wind peitscht durch die City und schärft alle Sinne. Vielleicht liegt es daran, dass die architektonischen und sozialen Kontraste in dieser einst kriegsversehrten und dann wirtschaftswunderbunt zusammengewürfelten Stadt heute so dramatisch erscheinen. Unter den kahlen Platanen des Hansaplatzes klammert sich ein junges Pärchen frierend an zwei abgenutzte Plastiktüten.
Westlich dieser Esplanade verkörpert das 1957 als Verwaltungssitz der Ruhrkohle AG errichtete Hansakontor die Dynamik des Wiederaufbaus. Wilfried Utermann hat sich 1998 mit seiner Galerie im elegantesten Teil des Gebäudekomplexes niedergelassen: dem ehemaligen Sitzungssaal, wo die Kohlebarone zwischen hohen nussbaumgetäfelten Wänden tagten, über schwarzen Marmor schritten und durch ein Panoramafenster auf einen Skulpturengarten blickten. Dieses Zeugnis effektvoller Selbstinszenierung besitzt eine Weltläufigkeit, wie man sie in New York erwarten würde. Im proletarisch geprägten Dortmund wirkt sie fast aufrührerisch. Utermann erfreut sich täglich an dieser Nachkriegsherrlichkeit, hält sie allerdings für anachronistisch: „Unser Geschäft funktioniert heute ohne Laufpublikum. Wir bieten an und sind dann beim Kunden.“

 

Die Geheimnisse einer Erfolgsgeschichte

Manchmal muss man nach den Sternen greifen, um in einer Stadt zu überdauern, die ihre Identität Kohle, Stahl und Bier verdankt, aber nie eine besondere Affinität zur Kunst entwickelt hat. Wenn 2018 die letzte Zeche im Revier schließt, wird die Galerie ihren 165. Geburtstag feiern. Im 100. Jubeljahr saß Wilfried Utermann noch auf dem Schoß des adretten Großvaters und durfte mit anstoßen. Inzwischen ist er 70, hegt selbst eine Vorliebe für gut geschnittene Anzüge und hat sich über die eigene Nachfolge längst Gedanken gemacht. Höchste Zeit, die Geheimnisse dieser Erfolgsgeschichte zu ergründen. Als Wilhelm Utermann im Mai 1853 seine Buchhandlung am Ostenhellweg ins Leben rief, wurde er Zeuge von Dortmunds industriellem Aufstieg, teilte Fortschrittsglaube und Optimismus. Bald umfasste das Sortiment auch hochwertige Schreibwaren sowie Goldleisten für Einrahmungen, die man in der eigenen Werkstatt ausführte. Bereits nach fünf Jahren erwarb der Patron Haus und Grund in der vornehmen Betenstraße. 1894 starb Wilhelm und Sohn Carl, das äl­teste von neun Kindern, übernahm mit nur 19 Jahren den Betrieb.

Wilfried Utermann lotst mich zu einem Grafiktisch und liest eine alte Zeitungsanzeige vor, die sein Großvater anlässlich des Staffelstabwechsels geschaltet hatte: „Auswahl grösser und gediegener, Leitung fachkundiger als in irgend einer anderen hiesigen Kunsthandlung.“ Den Enkel amüsiert der selbstbewusste Tonfall, für Carls unternehmerische Verve empfindet er Respekt. „Mein Großvater hat das Geschäft erfolgreich erweitert und mit dem massenhaften Export von Öldrucken in die USA, Waldeinsamkeit, ­röhrender Hirsch, solche Dinge, ein Vermögen verdient.“ Seine Ausstellungen mit den gefälligen Sujets der Düsseldorfer und Münchner Malerschule waren auf den Einrichtungsgeschmack westfälischer Industrieller zugeschnitten. 1911 beauftragte er die Architekten Spenhoff & Strunck mit dem Neubau eines Geschäftshauses im Stil der Neorenaissance. Dortmunds erstes Stahlbetongebäude besaß eine moderne, vollständig verglaste Schaufensterpassage, einen repräsentativen Oberlichtsaal und nahm wenig Rücksicht auf die Proportionen der umliegenden Häuser.

Über die klassische Moderne zum deutschen Expressionismus

Zur Avantgarde-Kunst blieb Carl Utermann immer schön auf Distanz. Erst der zum Nachfolger bestimmte Sohn Werner flirtete zaghaft mit der Moderne.  
Diskretion war für die Utermanns stets Ehrensache. Doch im November 1935 wurden sie aus der Deckung gelockt. Nach Stationen in Dresden, Nürnberg und Hagen erreichte die von den Nationalsozialisten organisierte Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“ auch Dortmund. 95 konfiszierte Werke der Moderne wurden auf demütigende Weise zur Schau gestellt. Die Kunsthandlung Utermann sollte als Gegenmodell sogenannte Deutsche Kunst zusammentragen und im Obergeschoss desselben Ausstellungshauses präsentieren. Man wagte nicht, diese unheilvolle Einladung auszuschlagen. Die Auswahl umfasste unter anderem Reproduktionen von Tilman Riemenschneider, Caspar David Friedrich, Wilhelm Leibl.

Über die Kunstverkäufe während der Nazizeit weiß Wilfried Utermann wenig. Er verweist auf einen Katalogbeitrag, den der Historiker und Alfred-Flechtheim-Experte Ottfried Dascher zum 150. Jubiläum der Galerie verfasste: „Über die Gemäldeverkäufe der Jahre 1939 bis 1944 informieren zwei Kladden, die in der Manier des Kunsthandels, halb verschlüsselt und halb Aufzeichnung ›pro memoria‹, Künstler wie Otto Pippel, Wilhelm Schreuer, Eberhard Viegener, Carl Hilgers u. a., ihre Kunstwerke sowie Kunden in Dortmund und im näheren Umkreis und Preise benennen.“ Wechselten verfemte Kunstwerke möglicherweise in Hinterzimmern die Besitzer? „Man verkaufte keine Kunst, die verboten war“, da ist sich der heutige Patron sicher, „ob als bewusste Entscheidung oder aus Geschmacksgründen, kann ich nicht sagen. Die Arbeiten des deutschen Expressionismus rückten erst ins Zentrum des Programms, als ich 1972 übernahm.“

Lehr- und Wanderjahre

Am 21. Februar 1945 wurde das Haus Utermann in der Betenstraße durch einen Fliegerangriff zerstört. Der 1946 als Sommerkind geborene Wilfried wuchs in Schutt und Asche auf. „Wir haben uns aus Goldleisten, die wir in der Einrahmungswerkstätte fanden, Schwerter gebastelt und in der zerstörten Innenstadt gespielt.“ Der unbeugsame Wille des Vaters, das Geschäft rasch wieder aufzubauen, hat ihn tief beeindruckt: „In dieser Trümmerlandschaft, hinter zwei neuen Schaufenstern trotzdem Kunst anzubieten, obwohl alles andere wichtiger war.“ Man zeigte Bewährtes aus dem 19. Jahrhundert, aber auch Käthe Kollwitz und Otto Pankok.
Bei der angesehenen Bilderrahmen-­Manufaktur Conzen in Düsseldorf ging ­Wilfried Utermann in die kaufmännische Lehre. Freundin und Kollegin Hella Winkler weckt in ihm die Liebe zur Kunst der klassischen Moderne. „Sie selbst waren nicht unbedingt der intellektuelle Typ?“, möchte ich wissen. „Ach wat, überhaupt nicht.“ Es ist das einzige Mal in unserem langen Gespräch, dass er Ruhrdeutsch spricht. Nach Lehr- und Wanderjahren zurück in der Betenstraße, eröffnete der Junior im ersten Stock ein Antiquariat für dekorative Grafik.

Doch er wollte mehr. Als Werner Utermann sich mit 65 Jahren aus dem Unternehmen zurückzog und an den Thronanwärter übergab, erfand Wilfried die Galerie praktisch neu: mit einer Ausstellung von Christian Rohlfs, diesem wandlungsfähigen Maler der Moderne. Doch dazu musste er das Wohlwollen der Künstlerwitwe gewinnen. „Ich zauderte lange, rief Helene Rohlfs schließlich an und durfte vorbeikommen.“ Als wollte sie die beginnende Freundschaft besiegeln, steckte Frau Rohlfs dem 26-Jährigen mit dem schmalen Gesicht ein Stück Schinken in den Mund. „Probieren Sie mal.“ Ab jetzt erschien Utermann bei »Kalli« einmal wöchentlich zum Tee. „Das einzige Thema war der Löwe, so nannte sie ihren Mann. Sie hat mir alles über ihn erzählt.“ Für seine Vertraute steuerte Wilfried Utermann fortan den kunsthändlerischen Teil des Rohlfs-Nachlasses.
Zum 125-jährigen Firmenbestehen 1978 stemmte Utermann eine umfangreiche Expressionistenschau, bestückt mit Meisterwerken von Nolde, Klee, Jawlensky, Marc. Die Reputation konnte ihm nun niemand mehr nehmen. Der Stern-Gründer Henri Nannen wurde auf den smarten Kunsthändler aufmerksam. Utermann unterstützte ihn bei einer Rohlfs-Ausstellung in Emden. „Das war sozusagen die Geburtsstunde der Kunsthalle Emden.“ Auch andere Sammler wie der Badewannenhersteller Franz-Dieter Kaldewei vertrauten beim Aufbau ihrer Kollektion auf die Sorgfalt und Intuition des Dortmunders.

Kunsthandel zwischen Dortmund und New York

Wie hat sich der Expressionismus-Handel im Laufe der Zeit verändert? „Der Markt wurde international. Durch das Interesse amerikanischer Sammler sind die Preise kolossal gestiegen. Als ich vor dreißig Jahren nach New York ging, hatten Kollegen wie Serge Sabarsky und Leonard Hutton den Expressionismus bereits bestens in amerikanischen Sammlungen etabliert. Ich erhielt dann die Möglichkeit, das eine oder andere aus diesen Kollektionen zu akquirieren. Es war eine gute Zeit.“ Der Liebe wegen pendelte Utermann jahrelang zwischen New York und Dortmund. 1989 heiratete er Renée ­Price, eine Amerikanerin mit Wiener Wurzeln, die heute die Neue Galerie in New York leitet. Gemeinsam verwirklichten die beiden charmante Gegenüberstellungen: Lyonel und Andreas Feininger treffen auf George Rickey. Zur Eröffnung erschien Rickeys Frau Edith im kunstvoll plissierten Miyake-Gewand und brachte in einer Tanzperformance die kinetischen Skulpturen ihres Mannes zum Schwingen.

Ende der 1980er wurde es „komplizierter und mühsamer, auf dem Feld des deutschen Expressionismus gegen die Konkurrenz zu arbeiten“. Also kam ein zusätzliches Gebiet hinzu, Kunst nach ’45 und einige zeitgenössische Positionen. Endlich war ein lebendiger Austausch mit seinen Künstlern möglich. Im Fall von Emil Schumacher und Horst Antes führte er jeweils zu engen Freundschaften. Schumacher gewährte Utermann Zugriff auf die „großartigsten gestischen Arbeiten auf Papier“. Zwischen dem Informel-Berserker und seinem Düsseldorfer Galeristen Hans Strelow aber gab es ein Arrangement: Die Kraterlandschaftsgemälde bekommt Strelow. „Typisch westfälisch! Und typisch Emil Schumacher, dass dieser Handschlag durchgehalten wird. Deshalb mag ich die Westfalen so“, sagt Utermann.
Die Begegnung mit Antes fädelte Utermanns dritte Frau, die Psychoanalytikerin Angela Utermann ein. Während einer Italienreise schlug sie vor, den mimosenhaft scheuen Künstler auf seinem toskanischen Weingut spontan zu besuchen. Zu Antes’ 80. Geburtstag im vergangenen Herbst richtete ihm der Galerist eine wundervolle Ausstellung ein. Antes werde in seinem aktuellen Werk nicht immer verstanden, sagt er. Mit seinen charakteristischen Kopffüßlern hatte der Künstler eine archaische Fabelwelt geschaffen. Dann warf ihn die Erfindung der Neutronenbombe aus der Bahn, sodass er die Menschen aus seinem Werk verbannte und nur noch Häuser malte, die aber von denselben Seelenzuständen getrieben sind. Utermann holt ein Gemälde von der Wand. „Diese Häuser stehen wie eine Familie zueinander, sie umarmen sich. Ich finde sie erschütternd schön.“

Die Gründung des Auktionshauses Villa Grisebach

1986 gelang ein Husarenstück. Utermann und drei weitere Kollegen gründeten mit Bernd Schultz als treibender Kraft das Berliner Auktionshaus Villa Grisebach. „Wir wurden als Nestbeschmutzer beschimpft.“ Doch der Aufstieg der Newcomer in der Mauerstadt war nicht aufzuhalten, und die Nörgler verstummten. „Nun konnten wir Kunst anbieten, die in einer kleinen Dortmunder Galerie sonst nicht anfallen würde“, gibt sich Utermann, heute noch Gesellschafter der Villa Grisebach, bescheiden. Dabei hatte er seinen größten Coup bereits gelandet: die Entdeckung einer „Fränzi“ unter der weiß getünchten Rückseite von Ernst Ludwig Kirchners 1919 gemaltem Bild „Hühner im Garten“.
Zum Mittagessen kommt Utermanns Geschäftsführerin Karin Schulze-Frieling, die vergangenes Jahr zur zweiten Vorsitzenden des Bundesverbands deutscher Galerien und Kunsthändler gewählt wurde. Und Lukas Minssen. Das ist er also: der Patchwork-Sohn, designierte Nachfolger und erste Kunsthistoriker in fünf Generationen Utermann. Es gibt Risotto und starken Espresso. Das Team diskutiert über das neue Kulturgutschutzgesetz. „Ich habe gerade die Anträge für die Kunstmesse Tefaf geschrieben. Absurd, dass man nach Holland fährt und Bilder nicht einfach mitnehmen kann!“, empört sich Schulze-Frieling. „Es führt zu Frustrationen, wenn im Drei-Jahres-Rhythmus Gesetze erlassen werden, die dem Handel das Leben erschweren“, ergänzt Minssen. „Bei mir nicht, mir macht das immer noch Spaß“, kontert der Chef mit einem ironischen Seitenblick auf seinen Kronprinzen.
Schon möglich, dass sich Wilfried Utermann künftig trotzdem stärker auf das Gestalten luxuriöser Möbel konzentriert. Diese schöpferische Seite lernt jeder kennen, der in seine Fünfziger-Jahre-Villa am Stadtrand eingeladen ist. Getafelt wird an einem langen Tisch aus patinierter Bronze und Blattsilber. Utermann hat ihn entworfen, als er quasi über Nacht Mitglied einer riesigen Patchwork-Familie wurde. Das scheint ohnehin der Schlüssel zu diesem erfolgreichen Galeristenleben zu sein: Sei immer bereit für ein noch größeres Abenteuer.

ABBILDUNG GANZ OBEN

Galerist Wilfried Utermann, (Foto: Henning Ross)

DIESER BEITRAG ERSCHIEN IN

WELTKUNST Nr. 126/2017

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