Seine Schnittbilder machten Lucio Fontana weltberühmt. Nun ist der italienische Künstler in Venedig als Keramiker zu entdecken
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07.10.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 246
Der Schnitt durch die monochrome Leinwand, eine einfache, aber radikale Geste, ist der große Beitrag zur Kunstgeschichte des Italieners Lucio Fontana. Seine ersten „Concetti spaziali“ (Räumliche Konzepte), die revolutionäre Erweiterung von Oberflächen und Volumen durch Löcher und Schnitte, entstanden im Jahr 1949. Fontana war damals schon ein etablierter Bildhauer, hatte zweimal an der Kunstbiennale in Venedig teilgenommen und an einer Gruppenschau im Metropolitan Museum in New York. Seine Entwicklung von der klassischen Figurengestaltung zur geschnittenen Plastik zeigt ab Oktober die Peggy Guggenheim Collection in Venedig mit dem Thema „Mani-Fattura“ („Manu-Faktur“ oder „Hände-Anfertigung“).
Als Sohn eines italienischen Bildhauers 1899 in Rosario in der argentinischen Provinz Santa Fe geboren, wuchs Fontana ab 1905 in Norditalien auf und kehrte mit Anfang zwanzig in seine Heimat zurück, wo er ein eigenes Atelier eröffnete und neben großformatigen figurativen Werken, wie ein in Bronze gegossenes Grabmal, auch abstrahierte, kleinere Skulpturen von Hand schuf. Zu Letzteren zählt die mit schwarzem Lack überzogene Gipsfigur „Ballerina di Charleston“ (1927), welche die klassische Nacktheit mit kubistischen Formen und modisch verrenkten Armen und Beinen kombiniert.
Als Fontana zwischen 1928 und 1930 in Mailand die „Marmorschule“ bei Adolfo Wildt besuchte, eignete er sich dessen strengen Monumentalstil an. Sein Lehrer war Kommissar der Kunstbiennale in Venedig und verschaffte Fontana 1930 seine erste Teilnahme mit den Skulpturen „Eva“ (1928) und „Vittoria Fascista“ (1929), deren Ästhetik den politischen Zeitgeist widerspiegelten. Doch schon im Jahr darauf offenbarte er sein Interesse für Abstraktion und Expressionismus, als er sein heute verlorenes Werk „Uomo nero“ – eine grob konturierte, hockende Figur aus Gips, die mit Teer überzogen war – präsentierte.
In den Vierzigerjahren unterrichtete Fontana in Buenos Aires Bildhauerei und veröffentlichte 1946 sein „Manifiesto blanco“, das „Weiße Manifest“, in dem er seine Vision darlegt, den Raum um die vierte Dimension der Unendlichkeit zu erweitern. Diese theoretischen Überlegungen konkretisierte er wenige Jahre später mit der Öffnung von Fläche und Volumen.
Die Bandbreite seines Schaffens demonstrieren die Arbeiten „Battaglia“ (1947) und „Concetto Spaziale“ (1962/1963). Die erste, eine bunte Kampfszene, die von Leonardos zwischen 1503 und 1505 entstandenen Zeichnungen der Anghiari-Schlacht des Jahres 1440 inspiriert ist, stellt ein dichtes Geschehen dar, in dem Reiter und Pferde zu einer amorphen Einheit verschmelzen. Anders, beinahe statisch, wirkt die goldglasierte Terrakottakugel, die auf einem Holzsockel steht. An der Seite klafft ein Loch, dessen Ränder sich unter der Oberfläche nach außen wölben und das den Blick auf das dunkle Innere freigibt. Auch hier geht es um die Öffnung räumlicher Grenzen, um das Ringen um Gleichgewicht, um Licht und Schatten – aber anders, nämlich minimalistisch und konzentriert. Beide Werke verdeutlichen, warum man Lucio Fontanas kunsthistorische Bedeutung nicht auf seine berühmten Schnittbilder reduzieren sollte.
„Mani-Fattura: le ceramiche di Lucio Fontana“,
Peggy Guggenheim Collection, Venedig,
11. Oktober bis 2. März 2026