Friedrich Nerlys spätromantischer Nachlass ist endlich erschlossen. Im Erfurter Angermuseum ist die betörende Malerei des Wahlvenezianers jetzt in einer umfangreichen Ausstellung zu sehen
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29.01.2025
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 237
Auf der Heimfahrt von der Ausstellung „Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt“ im Erfurter Angermuseum habe ich im ICE ein bisschen geheult. Wie sollte ich die vielen, fast unbekannten grandiosen Meisterwerke in meinem Mini-Essay unterbringen? Geheult vor Glück natürlich. Denn Nerly war nicht nur der Romantiker mit dem besten Blick für das bis 1866 habsburgische Venedig, einer, der stark geholfen hat, die Lagunenstadt den italienischen Sehnsuchtsorten hinzuzufügen, und der selbst „fast“ schon Venezianer geworden war, wie es zu seinem Tod 1878 hieß.
Friedrich Nerly, geboren 1807 in Erfurt und im Anschluss an Lehrjahre bei Carl Friedrich von Rumohr erstmals 1828 nach Italien gereist, war ein Alleskönner. Er war der Deutsche mit dem stärksten Schmelz, grandios kitschig zuweilen. Sein filigran gemaltes „Schwäne verteidigen ihr Nest gegen eine Schlange“ ist mehr als zwei Meter breit! Gleichzeitig war er der Maler von Himmeln, die in jedem Format besser aussehen als die Realität, tags wie nachts. „Mondschein-Nerly“ nannte man ihn, den Erfinder der Bildkomposition mit spektakulär mondbeschienener Piazzetta. Höchst erfolgreich verfrachtete er deutsche „mondbeglänzte Zaubernächte“ à la Ludwig Tieck ins zumeist strahlend helle Venedig. Allerdings darf man ihn mit gleichem Recht Zwielicht-Nerly, Wolken-Nerly, Licht-Nerly nennen.
Als echter Reisemaler und Freilichtstudent transformierte er die Ölskizze, er gehörte vor seinen Venedig-Jahrzehnten in Rom ab 1828 zum Kreis der plein air malenden deutschen Künstler wie Johann Christian Reinhart oder Friedrich Preller d. Ä. Während Nerly südliche Farben aufsaugte, wurde er auch zum Meister von Gestein und Flora. Felsen, Mohn, Granatapfel, Agave! Nicht zu vergessen seine berückenden Architekturstudien. Außer Porträts, die man bei ihm mit der Lupe suchen muss, machte dieser Nerly wirklich fast alles perfekt – und ist doch bis heute eher ein Geheimtipp. Das dürfte sich mit den mehr als 200 bis zum 23. Februar ausgestellten Werken der weltweit größten Nerly-Schau aller Zeiten stark ändern. Das Angermuseum ist dafür der richtige Ort, da sich dort ja die größte Sammlung befindet. Bilder und Ölskizzen, teils doppelseitige Zeichnungen und Skizzenbücher ergeben beinahe 1000 Werke aus dem bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch Nerlys Sohn in die Stadt gekommenen Hauptnachlass, von dem nun zentral die Ölarbeiten zu sehen sind. Allein für das Zwei-Meter-Schwanengemälde (highly instagrammable, extra zum Ausstellungsbeginn restauriert) lohnt sich die Reise. Und natürlich für Nerlys fabelhafte Mond-Piazzetta-Bilder, mit denen er berühmt wurde und die er fast vierzig Mal malte, weil es so viel Nachfrage gab.
Mindestens ebenso anziehend ist aber eines der weniger bekannten, augenöffnenden Bilder seiner spätromantischen Italienverherrlichung. Erst durch die Restaurierung wurden auch diese Werke oft erst im wahrsten Sinne ans Licht gebracht, so heißt es aus dem Erfurter „Team Nerly“. Zu diesem gehören Claudia Denk, bekannt von der Münchner Heilmann-Stiftung im Lenbachhaus, Museumsdirektor Kai Uwe Schierz, Kurator Thomas von Taschitzki, Restauratorin Karin Kosicki sowie unter ihrer Leitung die zentralen Restaurierungsstätten der Stadt. Nerly beobachtete die österreichische Kaiserin Sisi bei ihrer Ankunft am Canal Grande – er selbst auf einer schaukelnden Gondel sitzend, so scheint es, während er sie skizzierte. Oder er brachte eine uns unbekannte Schöne ins Bild, in der Gondel ein Buch lesend – August von Platens Sonette aus Venedig, die der Maler verehrte? „So mischt sich unter jene Kunstgebilde / Die schönste Blüthe lebender Gestalten“, heißt es im neunten Sonett, fast wie ein Programm von Nerlys neuem Blick auf diese alte Stadt. An Modernität und Lebendigkeit nicht zu übertreffen ist die Nachtszene „Traghetto-Station am Campo di Santa Maria del Giglio“. Himmel und Mond durch Bäume verstellt, rückt das silbrige Licht die wartenden Gondolieri in den Fokus, man meint gedämpfte Stadtgeräusche, ein Saiteninstrument und dumpfen Kanalduft wahrzunehmen. Jeder, der nachts in Venedig war, kann sich an ähnliche Stimmungen erinnern, und wer noch nie da war, wird sich sofort verlieben.
Nerly legte seine glühende Landschaftsmalerei-Erfahrung in die Stadtbilder, belebte die oft steife Vedutenmalerei neu. Erst nach seinem Tod wurde der Begriff „Stadtlandschaft“ wichtig, im Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist er noch nicht enthalten; Nerly hat ihn sozusagen malerisch vorweggenommen.
Vierzig Jahre lebte der Künstler im Palazzo Pisani, wo er den Zar und den preußischen König empfing, wenige Schritte vom Markusplatz und vom Caffè Florian entfernt, in dem er abends saß, von Freunden gefeiert, von Reisenden umschmeichelt; seine Adresse stand in jedem Venedigführer. Kurios nur, dass kaum ein einziger Venezianer je ein Bild bei ihm kaufte, wobei man diesen Effekt von vielen nordischen Italienmalern kennt. Egal wie lange sie dort lebten, ihre Kunstwerke gingen fast vollständig außer Landes.
Nerlys Architekturstudien aus dieser Zeit, so ruhig gemalt, so genialisch empfunden, lassen einen wünschen, dass er einen noch mal durch die Weltwunder-Stadt führen möge – aber bitte bei Mondschein! Das Gaslicht, das sich auch dort immer mehr etablierte, ließ er sogar auf Piazzetta-Gemälden von 1870 noch weg, ebenso Dampfschiffe.
Hübsch war er, dieser Nerly, mit offenem Gesichtsausdruck und geschmeidigen Umgangsformen. Nur einmal, als junger Mann, zeichnete er sich selbst und dann höchstens mal als kleine galante Figur. Er heiratete eine gebildete, schöne Venezianerin, zudem vermittelte er als Kunstagent Preußens der heutigen Staatsgalerie Stuttgart sozusagen den ersten Grundstock von 250 Gemälden. Sein Gespür für Wirkung ist legendär, im umfangreichen, den Hauptnachlass aufarbeitenden Katalog wird er Verkaufstalent genannt, auch weil er die „variierende Wiederholung“ anwandte, da viele Touristen seine berühmten Motive ergattern wollten.
Es gibt Berichte, er habe manche Motive drei- bis zehnmal gemalt, teils jedoch noch öfter, siehe die fast vierzigfache Piazzetta in Venedig bei Mondschein – unter anderem ist neben einer Fassung von 1838 auch die Hamburger Version von 1842 als Leihgabe in Erfurt zu sehen. Für Leid, Trauer und Einsamkeit ist in seinem Werk kaum Platz, obwohl er beispielsweise früh den Vater verlor. Doch wollte er die Welt in Blüte und Schönheit erkennen, man spürt es noch heute. Die Dämmerung der Nachtbilder erinnert teils an Matthias Claudius’ besinnliches Abendlied. Allerdings, es gibt auch schauerromantisch Finsteres, etwa zur Seufzerbrücke und zu venezianischen Kerkern, schon allein, weil das Publikum das erwartete. Doch selbst den Zischlaut seines Geburtsnamens, Nehrlich, band der schlaue Künstler bereits seit 1830 in das prägnante Y von Nerly. Der italianisierende Fantasiename, rund und freundlich wie sein Gesicht, bleibt haften.
„Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt“
Angermuseum, Erfurt,
bis 23. Februar