„Venezia 500“ in München

Was ist ihr Geheimnis?

Die venezianische Renaissance steckt voller Überraschungen: In München präsentiert die Alte Pinakothek eine grandiose Schau mit frisch restaurierten Gemälden und schreibt mit neuen Forschungsergebnissen die Kunstgeschichte um

Von Lisa Zeitz
03.11.2023

Hinzu kommen kunsttechnologische Indizien. Es gebe kaum ein Werk von Giorgione, das nicht in einer unteren Malschicht noch eine andere Komposition aufweise, erklären die Restauratorinnen. Zwar habe auch Tizian einiges übermalt, „aber nicht wie Giorgione in dieser Kompromisslosigkeit. Komplett fertige Bilder mehrfach zu übermalen, das gibt es so bei keinem anderen.“ Im Katalog ist das Werk jetzt vorsichtig mit „Giorgione (?)“ verzeichnet. Auch andere Bilder in der Ausstellung sind gereinigt und kunsttechnologisch untersucht worden und geben überraschende Informationen preis: Als „Bildnis eines Juweliers mit einer Dame“ galt lange ein Werk von Paris Bordone, das meist im Depot aufbewahrt, aber jetzt zur Ausstellung gezeigt wird. Schon seit einiger Zeit weiß man, dass die Juwelen, die vor ihm ausgebreitet sind, nicht von Paris Bordone stammen, sondern erst später auf Wunsch der Wittelsbacher hinzugefügt wurden. Der Vergleich mit Hans Mielichs „Kleinodienbuch“, das die Schätze von Herzog Albrecht V. von Bayern und seiner Gemahlin Anna von Österreich dokumentiert, ist eindeutig.

Röntgenaufnahme Giorgione
Die Indizien sprechen für Giorgione: Unter dem „Bildnis von Giovanni Borgherini und Trifone Gabriele“ verbirgt sich eine Landschaft mit Figuren, hier ein Detail im Röntgenfluoreszenz-Scan. © Wagner/Doerner Institut; Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München

Das Bildnis hing einst in der Residenz der Bayern in unmittelbarer Nähe zu Tizians „Eitelkeit der Welt“, und auch in Tizians Werk wurden nachträglich Juwelen, Perlen und Münzen hineingemalt. Ein Schmuckstück war auch bei einem anderen Gemälde ein wichtiger Hinweis. In Bartolomeo Venetos Porträt eines blonden jungen Mannes hat Johanna Pawis das Wappen auf dem Siegelring als springenden Fuchs, Zeichen der venezianischen Familie Zane, identifiziert. Auch die merkwürdige Handhaltung, in die ein Restaurator des 19. Jahrhunderts einmal einen Stock hineingemalt hat, kann sie nach gezielten Archivrecherchen erklären: Im Alter von 20 Jahren konnten sich adlige junge Männer vorzeitig um den Zutritt zum Maggior Consiglio, dem wichtigsten politischen Organ Venedigs, bewerben. Zu diesem Amt gehörte eine schwarze Toga mit schwarzer Stola. Der Jüngling aus der Familie Zane umgreift stolz diese Stola, das Porträt feiert den Anfang einer politischen Karriere.

Ein weiteres Werk, das zum Glück für die Tiefenbefundung ausgewählt wurde, kann neuerdings als Malerei von Tintoretto und seiner Werkstatt gelten. Der Manierist war berühmt für seine gewagten Kompositionen und seine schnelle Malweise, mit der er zum Beispiel riesige Wandflächen im Dogenpalast füllte, aber er malte auch Porträts. Das etwas steif wirkende Familienbildnis der Staatsgemäldesammlungen zeigt drei Generationen und lässt sich stilistisch in die 1570er-Jahre datieren. Ein graubärtiger Herr im Hermelinpelz reicht einem jüngeren Mann ein Schriftstück. Am Rand steht ein kleiner Junge, der mit kostbarem Gewand und Spitzenkragen prächtig herausgeputzt ist. Die Dynamik des Gemäldes ist verhalten, ja, man kann sagen, sie hätte etwas von einer trockenen geschäftlichen Transaktion. Wenn da nicht das Kerlchen mit der Blume in der Hand wäre. Sein Gesicht ist von kindlichem Ernst und so süß, dass es den Blick der Betrachterin magnetisch anzieht. Bei der Reinigung des Bildes, erklärt Anneliese Földes, kam in den Glanzlichtern auf dem Vorhang das für Jacopo Tintoretto so typische Liniengerüst aus „Bleiweißstegen“ deutlich heraus.

Bartolomeo Veneto
Um 1505 malte Bartolomeo Veneto den Fuchs auf dem Siegelring als Wappentier der Familie Zane. © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Außerdem erschien, zunächst nur im Infrarotreflektogramm sichtbar, eine Inschrift auf der Wand zwischen den beiden Männern. Sie diente Johanna Pawis als Ausgangspunkt für ihre Recherchen in venezianischen Genealogien. Welcher Name könnte sich hinter der Abkürzung „Ant. Magg.“ verbergen? Nach unzähligen Stunden fand sie nicht nur einen Namen, sondern eine Familiengeschichte, die Stoff für einen Hollywoodfilm bietet. „Antonio Maggi, der kleine Junge, ist nicht nur der Protagonist des Bildes, sondern auch die zentrale Figur in einer Familienfehde mit Seifenoperqualität“, holt Pawis aus. Der Mann, der väterlich die Hand auf seine Schulter legt, ist Carlo Maggi, und daneben, sitzend, dessen Vater Giovanni Francesco Maggi. „Darauf am ich, weil es einen fantastischen und bisher kaum beachteten Codex von 1578 in der Bibliothèque Nationale in Paris gibt, der nun auch zur Ausstellung kommt.“

Erstmals nach 450 Jahren ist dieser Codex, in dem der kleine Junge bis ins Detail wiederzuerkennen ist, nun mit Tintorettos Familienbildnis wiedervereint. Der mittelalte Carlo Maggi, der auf dem Gemälde eher zurückhaltend wirkt, „hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein Abenteuerleben als Agent der Serenissima im Nahen Osten hinter sich“. All das fand sie im Codex illustriert, inklusive Stammbaum der Familie mit dem kleinen Antonio ganz oben. Nach Aufenthalten in Jerusalem und Syrien geriet Carlo Maggi 1571 auf Zypern in die Turbulenzen der Weltgeschichte, genauer gesagt in die Belagerung von Famagusta. Mit ihr fiel die letzte christliche Bastion im östlichen Mittelmeer. „Es war die letzte Niederlage der Venezianer vor dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto“, sagt Pawis, „der Tiefpunkt, der den Zusammenschluss der christlichen Kräfte gegen die Osmanen zum Sieg von Lepanto ermöglichte.“ Die Schlacht von Famagusta forderte auf venezianischer Seite rund 20 000 Todesopfer. Als er nicht nach Venedig zurückkehrte, könne man sich gut vorstellen, so Pawis, dass Carlo zu Hause ein Totgeglaubter war. Im Codex ist illustriert, wie er von farbenfrohen Turbanträgern entkleidet und versklavt, aber schließlich von christlichen Händlern freigekauft wird.

Schmuck Bartolomeo Veneto
Um 1505 malte Bartolomeo Veneto den Fuchs auf dem Siegelring als Wappentier der Familie Zane. Erst nachträglich wurde Paris Bordones Porträt eines Mannes um die Juwelen erweitert. Sie sind im Kleinodienbuch der bayerischen Herzöge dokumentie © bayerische Staatsgemäldesammlungen

„Interessant ist nun die Chronologie.“ Pawis schaut vielsagend. Als Carlo im Jahr darauf zurück nach Venedig kam, war klar, dass das Baby, das seine Frau geboren hatte, nicht von ihm war. „Der kleine Antonio ist geboren, als er in Gefangenschaft war.“ Im Archivio di Stato hat Pawis sein Testament gefunden. Es bezeugt, dass er Antonio ins Herz schloss – „sei er nun mein Sohn oder nicht“ – und dass ihm daran gelegen war, dass seine Familie den Kleinen als Erben akzeptierte. Tatsächlich hatten sich Carlos Geschwister gegen ihn gewandt. Der Codex zeigt sie neben einem toten Baumstumpf, während sich über den kleinen Antonio ein Füllhorn ergießt. Vor diesem Hintergrund, so Pawis, werde Tintorettos vermeintlich harmloses Mehrgenerationenporträt, „zu einem handfesten Instrument von familienpolitischen Legitimitätsstreitigkeiten“ und die dargestellte Übergabe des Schriftstücks zur Formel für vererbliche Rechte. Der Codex bilde „die Apotheose der Patchworkfamilie“ ab, Tintoretto malte „ein Happy End“. Keine hundert Meter von Carlo Maggis Haus in Venedig befand sich übrigens ein Künstleratelier: Hier arbeitete Jacopo Tintoretto, nur eine Brücke weiter.

Auch ohne die hier herausgepickten, frisch restaurierten Porträts wäre die Ausstellung mit ihren hochkarätigen Leihgaben aus den Uffizien und dem Prado, dem Louvre und der Londoner National Gallery, aus Wien und Dresden eine Sensation. Das „Cinquecento“ war für Venedig eine Zeit politischen Niedergangs, aber umso größerer künstlerischer Blüte.

Service

Ausstellung

„Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“,

Alte Pinakothek, München,

27. Oktober bis 4. Februar 2024

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