Francis Alÿs filmt seit Jahrzehnten für ein Videoprojekt spielende Kinder aus aller Welt. Nun erhält er den Wolfgang-Hahn-Preis und zeigt seine Arbeit in einer Ausstellung in Brüssel. Wir sprachen mit ihm über das Aufwachsen im Krieg, seine eigene Kindheit und Luftfußball als Widerstand
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14.11.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 220
Ja, das passte gut in die Serie. Aber nach anderen Spielen suche ich ganz gezielt. Wie im Fall von »Kisolo«, einem Film den wir 2021 in der Demokratischen Republik Kongo gedreht haben. Kisolo ist ein uraltes Spiel mit Mulden und Steinen. Es soll 3500 Jahre alt sein. Als wir in den Vorstädten von Lubumbashi danach suchten, sahen wir oft Erwachsene, die es spielten. Kinder zu finden, die Kisolo kannten, war dagegen schwierig. Das ist ein Wissensverlust in nur einer Generation! Da wurde mir klar: Ich muss versuchen, möglichst viele dieser verschwindenden Spiele zu dokumentieren.
Eine der Kuratorinnen, mit der ich 2016 für die Manifesta in Sankt Petersburg zusammengearbeitet habe, entpuppte sich als Ukrainerin. Zu Beginn der russischen Invasion schrieben wir einander, und sie erzählte mit von den Spielen. Es war ein selbstverständlicher Schritt, ihrer Einladung zu folgen und das Geschehen festzuhalten. Gerade der Film „Parol“ ist besonders, weil er zwei neue Elemente enthält: Eines davon ist, dass es sich hier erstmals um ein Wortspiel handelt.
Die Erwachsenen werden damit – wenn auch passiv – zu Teilnehmern im Spiel. Das ist das zweite neue Element.
Auch die Filme in Afghanistan und Irak entstanden im Umfeld bewaffneter Konflikte. Hier allerdings ist der Krieg die Ursache, die dieses spezifische Spiel hervorbringt. Zudem ist es ein Nachahmespiel: Es gibt noch einen offiziellen Checkpoint 300 Meter weiter die Straße entlang. Die Kinder kopieren also die Realität – die reale Welt der Erwachsenen – einerseits, um ein Teil davon zu werden und ihre Solidarität mit der nationalen Sache zu zeigen, und andererseits, um ihr Recht auf Spiel und auf ein eigenes Territorium zu reappropriieren.
Ich hatte zuvor bereits drei-, viermal den Irak besucht, und es schien einfach unvermeidlich beziehungsweise sogar essenziell, diesen Aspekt mit eigenen Augen zu sehen. Zu sehen, was das Land durchmachte. Daraus entstand der Film „Color Matching“ (2016), in dem ich meine Rolle als Zeuge hinterfragt habe. Er thematisiert die Fruchtlosigkeit des Versuchs, die Absurdität des Krieges darstellen zu wollen. Im Zusammenhang mit Ihrer Frage ist mir aber eines noch ganz wichtig zu betonen: Wo immer wir mit Kindern drehen, sorgen wir dafür, dass es eine sichere Umgebung ist. Die Sicherheit der Kinder hat unsere oberste Priorität!
Es ist tatsächlich bemerkenswert, wie schnell in jedem Konflikt, der länger als ein halbes Jahr dauert, dann doch das Alltagsleben zurückkehrt. Sie können nur 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt sein und sehen Orte, in denen das Leben wirklich völlig gewöhnlich verläuft. Das hat mit dem Überlebensinstinkt der Menschen zu tun. Genauso haben wir es auch in der Ukraine erlebt: Die Leute waren dankbar, dass wir spielende Kinder gefilmt haben und nicht Leichen oder Ruinen. Sie haben uns Kekse und kleine Geschenke gebracht. Es hat sie sehr gerührt, dass wir aus einem anderen Blickwinkel auf ihre Realität schauen, als die Medien das tun.
Spiele waren tatsächlich eine direkte Inspirationsquelle für viele meiner Arbeiten. In einem Spiel schafft man eine Ausgangssituation, und dann weiß man nicht, wohin einen die Dynamik des Spiels leiten wird. Bestimmte Parameter sind vorher festgelegt: Wer tut wann was? Die Rollen sind verteilt. Aber der Rest ist offen.
… „es ist nur ein Spiel.“
Oh ja, absolut. Es ist eine Möglichkeit, den Dingen zu widerstehen oder sie lächerlich zu machen. So wie die Kinder in Mossul, die in einem der Filme Fußball ohne Ball spielen. Sie wenden sich gegen die Anordnung des „Islamischen Staates“, die das Fußballspielen verbietet. Die Art, wie sie auf diese absurde Tatsache mit einer ebenso absurden Performance reagieren, offenbart ihren Humor – und zeigt eine sehr mächtige Form des Widerstands an.
Kinder können jeden Raum oder jeden Ort so umdeuten, dass er ihren Bedürfnissen entspricht. Und meist sind diese Umdeutungen spannender, als die überwachten und organisierten Räume der westlichen Städte, in denen sie sich sonst bewegen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Kiew habe ich einen Park gesehen, in dem eine russische Rakete explodiert ist und einen riesigen Krater geschaffen hat – direkt neben einem Kinderspielplatz. Diesen Krater haben Kinder sogleich als Spielterrain appropriiert.
Ja, denn ich empfand das als einen außerordentlichen Akt des Widerstands: Die Kinder haben einen Weg gefunden, die Realität um sie herum in ihren Alltag zu integrieren und sie dabei in etwas Poetisches und Spielerisches zu verwandeln.