Francis Alÿs

Unendlicher Spaß

Francis Alÿs filmt seit Jahrzehnten für ein Videoprojekt spielende Kinder aus aller Welt. Nun erhält er den Wolfgang-Hahn-Preis und zeigt seine Arbeit in einer Ausstellung in Brüssel. Wir sprachen mit ihm über das Aufwachsen im Krieg, seine eigene Kindheit und Luftfußball als Widerstand

Von Tim Ackermann
14.11.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 220

Das ist einer der zwei neuen Filme aus Kopenhagen, bei dem sich ein Dutzend Kinder an den Händen fasst und die Arme zu einem schier unentwirrbaren Knoten verknäult?

Ja, das passte gut in die Serie. Aber nach anderen Spielen suche ich ganz gezielt. Wie im Fall von »Kisolo«, einem Film den wir 2021 in der Demokratischen Republik Kongo gedreht haben. Kisolo ist ein uraltes Spiel mit Mulden und Steinen. Es soll 3500 Jahre alt sein. Als wir in den Vorstädten von Lubumbashi danach suchten, sahen wir oft Erwachsene, die es spielten. Kinder zu finden, die Kisolo kannten, war dagegen schwierig. Das ist ein Wissensverlust in nur einer Generation! Da wurde mir klar: Ich muss versuchen, möglichst viele dieser verschwindenden Spiele zu dokumentieren.

Es gibt aber auch Spiele, die aktuelle Phänomene aufgreifen: Zwei neue Videos in der Ausstellung zeigen Kinder in der Ukraine, die Straßensperren errichten oder mit ihren Stimmen Alarmsirenen imitieren. Wie kam es zu diesen Filmen?

Eine der Kuratorinnen, mit der ich 2016 für die Manifesta in Sankt Petersburg zusammengearbeitet habe, entpuppte sich als Ukrainerin. Zu Beginn der russischen Invasion schrieben wir einander, und sie erzählte mit von den Spielen. Es war ein selbstverständlicher Schritt, ihrer Einladung zu folgen und das Geschehen festzuhalten. Gerade der Film „Parol“ ist besonders, weil er zwei neue Elemente enthält: Eines davon ist, dass es sich hier erstmals um ein Wortspiel handelt.

Francis Alÿs
Ukrainische Kinder spielen 2023 in Charkiw Straßensperre – „Children’s Game #39: Parol“ © Francis Alÿs / Courtesy of the galleries Peter Kilchmann, Jan Mot and David Zwirner

Die Kinder stoppen Autos, deren Insassen dann eine Parole sagen müssen, die russischsprachige Menschen nicht richtig aussprechen können. Es ist das Wort für „Brot“.

Die Erwachsenen werden damit – wenn auch passiv – zu Teilnehmern im Spiel. Das ist das zweite neue Element.

Gibt es nicht noch ein drittes? Es ist ein „Children’s Game“, das Sie direkt in einem Krieg aufgenommen haben.

Auch die Filme in Afghanistan und Irak entstanden im Umfeld bewaffneter Konflikte. Hier allerdings ist der Krieg die Ursache, die dieses spezifische Spiel hervorbringt. Zudem ist es ein Nachahmespiel: Es gibt noch einen offiziellen Checkpoint 300 Meter weiter die Straße entlang. Die Kinder kopieren also die Realität – die reale Welt der Erwachsenen – einerseits, um ein Teil davon zu werden und ihre Solidarität mit der nationalen Sache zu zeigen, und andererseits, um ihr Recht auf Spiel und auf ein eigenes Territorium zu reappropriieren.

Die krisengeplagten Länder, in denen Sie gedreht haben, sprachen Sie an. Und 2016 waren Sie als Künstler „embedded“ mit der kurdischen Peshmerga-Armee im Nordirak und haben im Krieg plein air gezeichnet. Kennen Sie keine Angst?

Ich hatte zuvor bereits drei-, viermal den Irak besucht, und es schien einfach unvermeidlich beziehungsweise sogar essenziell, diesen Aspekt mit eigenen Augen zu sehen. Zu sehen, was das Land durchmachte. Daraus entstand der Film „Color Matching“ (2016), in dem ich meine Rolle als Zeuge hinterfragt habe. Er thematisiert die Fruchtlosigkeit des Versuchs, die Absurdität des Krieges darstellen zu wollen. Im Zusammenhang mit Ihrer Frage ist mir aber eines noch ganz wichtig zu betonen: Wo immer wir mit Kindern drehen, sorgen wir dafür, dass es eine sichere Umgebung ist. Die Sicherheit der Kinder hat unsere oberste Priorität!

Das stelle ich mir allerdings nicht so einfach vor, wenn Sie Konfliktregionen besuchen.

Es ist tatsächlich bemerkenswert, wie schnell in jedem Konflikt, der länger als ein halbes Jahr dauert, dann doch das Alltagsleben zurückkehrt. Sie können nur 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt sein und sehen Orte, in denen das Leben wirklich völlig gewöhnlich verläuft. Das hat mit dem Überlebensinstinkt der Menschen zu tun. Genauso haben wir es auch in der Ukraine erlebt: Die Leute waren dankbar, dass wir spielende Kinder gefilmt haben und nicht Leichen oder Ruinen. Sie haben uns Kekse und kleine Geschenke gebracht. Es hat sie sehr gerührt, dass wir aus einem anderen Blickwinkel auf ihre Realität schauen, als die Medien das tun.

Wie sehr hat die Idee des Spiels von Anfang an Ihre eigene Kunst beeinflusst? Ich denke bei dieser Frage an frühe Videoarbeiten wie „Cuentos patrióticos“ von 1997 – ein Film, in dem Sie einen Reigen von Schafen um den Fahnenmast auf dem zentralen Zócalo-Platz in Mexiko-Stadt führen. Oder „Paradox of Praxis 1“, wo Sie einen Eisblock so lange durch die Straßen der mexikanischen Hauptstadt schieben, bis er weggeschmolzen ist. Auch das wirkt absolut spielerisch.

Spiele waren tatsächlich eine direkte Inspirationsquelle für viele meiner Arbeiten. In einem Spiel schafft man eine Ausgangssituation, und dann weiß man nicht, wohin einen die Dynamik des Spiels leiten wird. Bestimmte Parameter sind vorher festgelegt: Wer tut wann was? Die Rollen sind verteilt. Aber der Rest ist offen.

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Mit gespiegelten Lichtstrahlen jagen sich einige Jungen im Video „Children’s Game #15: Espejos“ (2013) durch verlassene Häuser in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez © Francis Alÿs / Courtesy of the galleries Peter Kilchmann, Jan Mot and David Zwirner

Kann es nicht auch ein strategischer Vorteil sein, die Rolle des Spielenden einzunehmen? 2004 sind Sie für Ihr Video „The Green Line“ durch Jerusalem entlang der Waffenstillstandslinie von 1948 spaziert und haben Ihren Pfad mit einer Dose grüner Farbe markiert. Diese Grenzlinie existiert im heutigen Israel nicht mehr, die Palästinenser hätten sie gern zurück. Hätte die Polizei Sie bei Ihrer Aktion angehalten, hätten Sie behaupten können …

 … „es ist nur ein Spiel.“

Genau! „Es ist nur ein Spiel, und in diesem akzeptiere ich die Realität der Grenzverschiebung nicht.“ Kurz gesagt: Ein Spiel kann ein Akt des politischen Widerstands sein.

Oh ja, absolut. Es ist eine Möglichkeit, den Dingen zu widerstehen oder sie lächerlich zu machen. So wie die Kinder in Mossul, die in einem der Filme Fußball ohne Ball spielen. Sie wenden sich gegen die Anordnung des „Islamischen Staates“, die das Fußballspielen verbietet. Die Art, wie sie auf diese absurde Tatsache mit einer ebenso absurden Performance reagieren, offenbart ihren Humor – und zeigt eine sehr mächtige Form des Widerstands an.

Was können Erwachsene von spielenden Kindern lernen?

Kinder können jeden Raum oder jeden Ort so umdeuten, dass er ihren Bedürfnissen entspricht. Und meist sind diese Umdeutungen spannender, als die überwachten und organisierten Räume der westlichen Städte, in denen sie sich sonst bewegen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Kiew habe ich einen Park gesehen, in dem eine russische Rakete explodiert ist und einen riesigen Krater geschaffen hat – direkt neben einem Kinderspielplatz. Diesen Krater haben Kinder sogleich als Spielterrain appropriiert.

In der Ausstellung habe ich ein kleines Ölgemälde gesehen, das Sie von dieser Szene gemacht haben.

Ja, denn ich empfand das als einen außerordentlichen Akt des Widerstands: Die Kinder haben einen Weg gefunden, die Realität um sie herum in ihren Alltag zu integrieren und sie dabei in etwas Poetisches und Spielerisches zu verwandeln.

Service

Ausstellung

„Francis Alÿs: The Nature of the Game“

Wiels, Brüssel

bis 7. Januar 2024

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