Shirley Jaffe in Basel

Geometrisches Versprechen

Eine Amerikanerin in Paris: Die raffinierten Abstraktionen von Shirley Jaffe waren lange nur wenig bekannt, jetzt ist ihr bedeutendes Werk im Kunstmuseum Basel zu entdecken

Von Sabine Spindler
06.04.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 211

Berlin war damals nicht die Kunststadt, die sie heute ist. Die großen Debatten wurden im Rheinland geführt. Vielleicht bekam Jaffe im Oktober 1963 den Skandal um Georg Baselitz’ phallisches Bild „Die große Nacht im Eimer“ mit, aber die Neue Figuration interessierte sie nicht. Ein anderer progressiver Zauber regte sie an: In Berlin hörte sie die Musik von Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Die Neue Musik mit ihren Dissonanzen, das Nebeneinander von Gegensätzlichem und die radikale Abkehr von einer Klangwohligkeit berührte und inspirierte sie. Ihre Bilder in der Stipendiatenausstellung im Haus am Waldsee zeigten plötzlich Anklänge an geometrische, konstruktive Formen. Ihr Pinselstrich war immer noch heftig und energisch, aber sie verließ nun das Terrain des abstrakten Expressionismus. Drei Jahre verschanzte sich Jaffe in ihrem Atelier. Ihre älteren Bilder räumte sie weg, als wären es Relikte aus einem fernen Leben, gemalt von einem anderen Ich. Sie hat sie nie wieder hervorgeholt. Erst Frédéric Paul vom Centre Pompidou fielen sie im Zuge der Vorbereitung dieser Retrospektive in die Hände. Als die 92-jährige Jaffe 2016 sterbenskrank im Hospital lag, zeigte er ihr die Fotos der wiederentdeckten Werke. Zwölf davon vermachte sie dem Museum.

Die Jahre nach dem Berlin-Stipendium waren der tiefste Schnitt in ihrem Künstlerdasein. Sie entdeckte die Form als Ausdrucksmittel und die Farbe als Bedeutungsträger. Erst das Kolorit, so Jaffe, verleihe den Formen Wucht oder Stille. Um 1970 überzog sie die Leinwand wie ein Reißbrett mit Diagonalen, Kuben und Kreisen. Und sie wusste nur zu gut, dass ein schwarzes Dreieck bedrohlicher wirkt als ein pastellfarbenes. In kurzer Zeit wurden Jaffes Formen immer gezirkelter, einfacher, klarer. Manche sprechen von ihrer „Mauerwerk“-Phase, aber es ist ganz offensichtlich eine Reflexion der amerikanischen Hard-Edge-Malerei. Scharf und hart setzten sich mittels starker Farbkontraste die Flächen und geometrischen Elemente voneinander ab. Braun gegen ein milchiges Grün, Rot auf Blau, Gelb auf Schwarz.

Shirley Jaffe Playcard
Mehr als drei Meter breit ist „Playcard“ von 1995. © Collection Fondation Cartier pour l'art contemporain / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die Metamorphose setzte sich weiter fort. Die Geometrie der Zeichen löst sich auf, Fantasieformen ergreifen den Raum, biomorphe Umrisse, krumme Streifen, die wie Papierschnipsel wirken, und zackige Linien dringen in die strukturierten Flächen ein. Man spürt sehr viel Bewegung, zugleich ist die Spannung von einer darüberliegenden Ausgeglichenheit zusammengehalten. „Mich interessieren Nichtzentralität, Koexistenz der Gegensätze und permanente erfinderische Bewegungen, die sich nicht wiederholen, sondern zusammen als Ganzes funktionieren“, erklärt Jaffe in den Achtzigern. Wer genau hinschaut, findet in jedem Bild einen Widersacher – eine gepunktete Binnenfläche eines verzerrten Trapezes oder ein mächtiges, schwarzes X über einem strengen Streifenarrangement. Jedes Bild ist das Resultat langer Überlegungen und eines sehr langsamen Prozesses, in dem die Malerin um jeden Pinselstrich und seine Folgen gerungen hat. „Ich beginne ein Bild nie mit einer vorgefertigten Idee“, lautet ihr Standpunkt. Und das Ende ist stets offen. Einmal malt sie drei Bilder mit identischen Unterteilungen, doch am Ende erkennt keiner, dass die Ausgangssituation jedes Mal dieselbe war.

Jaffes subtil angelegten Formspiele geben Rätsel auf, aber ihre Zeichen entziehen sich der Dechiffrierung. Zugleich kann man die ganze abstrakte Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts aus ihnen herauslesen. Man denkt an die collagenartigen, noch gegenständlichen Fragmentierungen der Kubisten, man sieht die rotierenden Farbfelder von Robert Delaunay, die konstruktivistischen Kompositionen von Sophie Taeuber-Arp aus den 1920ern. Aber vor allem kommen einem bei den breiten Schlangenlinien und vegetativen Gebilden in mediterran leuchtender Farbigkeit, wie sie etwa auf Gemälden von 1985/86 begeistern, die Scherenschnitte von Henri Matisse in den Sinn. Noch viele Jahre später erinnerte Jaffe sich an eine Matisse-Ausstellung von 1961 als „sehr stark, sehr physisch“. Sieben Jahre danach reflektierte sie in ihrem Bild „Little Matisse“ dessen perspektivische Raumordnung und die Rolle des Ornaments. Jaffe hat Matisse nie imitiert, aber sein Einfluss ist sichtbar. Die Einfachheit der Form, ein gewisser Rhythmus und die leuchtende Präsenz machen sie zur Verwandten im Geiste.

Shirley Jaffe X, encore
Schwebende Geometrie: Die „weißen Bilder“, die Shirley Jaffe seit den späten Achtzigern malte, sind ein Höhepunkt in ihrem Werk, hier „X, encore“ aus dem Jahr 2007. © Alan Wiener / Private Collection New York / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Dieses Band der Inspiration verband sie vermutlich auch mit Wassily Kandinsky. An seiner explosiven Konstruktivität der Bauhaus-Zeit und den späteren Assemblagen monolithischer Flächen, fliegender geometrischer wie amorpher Zeichen bewunderte sie den Ideenreichtum und die innovative Kreativität. Unberührt blieb sie von Kandinskys Spiritualität. Da war die kühle Denkerin Jaffe der formalistischen Moderne ihres Landsmanns Stuart Davis näher, der schon in den 1920ern Urbanität in bunte Drei- und Vierecke zerlegte. Einen unmittelbaren Einfluss auf ihr Schaffen gestand sie nur Piet Mondrian zu, der ihr die Kraft der Farbe Weiß offenbarte. Seit den späten Achtzigerjahren schweben die bunten Elementarteilchen ihrer Malerei schwerelos im farblosen Raum. Weiß ist kein Hintergrund, es ist ein Mittel, die korrespondierenden Formen noch stärker herauszuschälen. Es kann Tiefe, Leere, aber auch Strahlkraft bedeuten. Für Jaffe waren die „weißen Bilder“, wie sie später von Freunden und Galeristen genannt wurden, eine malerische Annäherung an ein multidimensionales Sehen.

Kommerziellen Erfolg brachten die Bilder mit den fast poppigen Farben nur wenig. Anfang der Neunziger wurde Jaffes finanzielle Situation prekär. Ausstellungen bei Fournier in Paris und Holly Solomon in New York waren Misserfolge. Die Kunstwelt drehte sich um Fotografie, Pop-Art und Konzeptkunst. Figurative Malerei und die provokativen Briten zogen Sammler in den Bann. Die Pariser Galeristin Nathalie Obadia glaubte weiterhin an Jaffe. Kurz vor der Jahrtausendwende nahm sie die Künstlerin unter Vertrag, brachte ein Werkverzeichnis auf den Weg und unterstützte sie finanziell. In Obadias Koje während der Art Basel Miami Beach sah man 2018 ausschließlich Werke der Malerin.

Als Shirley Jaffe 2016 starb, fragten die Feuilletons, ob sie eher eine amerikanische oder französische Künstlerin sei. Le Monde neigte zum Französischen, die New York Times betonte die amerikanische Energie. Gefeiert wird sie, heute wie einst, als Amerikanerin in Paris.

Service

Ausstellung

„Shirley Jaffe. Form als Experiment“,

bis 30. Juli

Kunstmuseum Basel

kunstmuseumbasel.ch

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