Socle du Monde Biennale

Ziemlich guter Stoff

Die Socle du Monde Biennale in der dänischen Industriestadt Herning besticht vor allem mit aufregender Textilkunst

Von Tim Ackermann
30.09.2021

Dass Herning in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein kleines „Manchester des Nordens“ war, wissen außerhalb von Dänemark nur wenige Menschen. Die Ähnlichkeiten sind aber nicht von der Hand zu weisen: Wie die nordenglische Industriemetropole gut 150 Jahre zuvor, so wurde auch das Städtchen im mittleren Jütland nach 1950 zu einem Zentrum der Textilindustrie. In zahlreichen Fabriken wurden Bekleidungen, Stoffe oder Teppiche produziert. Eine alte, aus roten Ziegeln errichtete Werkhalle im Stadtzentrum erinnert heute an diese glanzvolle Vergangenheit: Das Tekstilmuseet erklärt mit Schaubildern, Filmen und ausrangierten Maschinen den Besuchern ihre Geschichte. Über den Köpfen sind derweil lange bunte Fäden aus Garnrollen zu einem filigranen Baldachin aufgespannt. Es sieht fast aus wie Kunst.

Manzoni in der Textilfabrik

Kunst, wiederum, ist vor allem der Grund, weshalb heute Touristen von weit her nach Herning reisen. Denn es gibt hier eine zweijährlich wiederkehrende Kunstausstellung, die Socle du Monde Biennale, die ebenfalls eine interessante Historie hat: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren lud der Textilunternehmer Aage Damgaard (1917–1991) verschiedene Künstler nach Herning, damit sie seine Fabrik am Stadtrand dekorierten und kaufte zudem zahlreiche Werke für eine Sammlung an. Gleich zweimal zu Gast war der Italiener Piero Manzoni, der hier bedeutende Werke schuf, darunter den „Socle du Monde“, seinen „Weltsockel“, einen Bronzekubus mit einer um 180 Grad gedrehten Beschriftung – so dass man sich auf den Kopf stellen muss, um sie zu lesen und dabei die ganze Welt auf dem Sockel sieht. Als die Fabrik 1977 schloss, wurde sie zu Aage Damgards privatem Museum, das 2009 einen Neubau erhielt und seitdem unter dem Namen Herning Museum of Contemporary Art (abgekürzt mit „Heart“) firmiert. Bereits sieben Jahre zuvor fand die erste Socle du Monde Biennale statt.

Das Heart ist der Schauplatz der Socle du Monde Biennale
Das Heart – Herning Museum of Contemporary Art. © Iwan Baan

Sehenswert ist nun an dieser Kunstveranstaltung, wie sie all diese Geschichten auf elegante und völlig ungezwungene Weise zusammenbringt. Das gilt umso mehr für die aktuelle, erneut vom Holländer Tijs Visser als Chefkurator geleitete Ausgabe. Spannend gerät schon der Prolog im benachbarten Carl-Henning Pedersen og Else Alfelts Museum, der die Anfänge der Damgaard-Sammlung zeigt: Manzonis weißmonochrome Leinwände oder eines seiner „Achrome“ Bilder von 1961, aus weißer Watte auf blauem Untergrund, hängen neben Arbeiten von zwei dänischen Künstlern, die zur selben Zeit in Herning arbeiteten und sich augenscheinlich vom Italiener inspiriert fühlten. Der abstrakte Maler Paul Gadegaard (1920–1992), der eigentlich sonst mit sehr farbigen Formen jonglierte, wurde – vermutlich unter dem Einfluss von Manzonis Monochromen – ebenfalls fast blass.

Das Hemd als Bild

Erstaunlicher noch sind die Materialexperimente von Sven Dalsgaard (1914–1999), der ebenso wie sein italienischer Kollege versuchte, die Vorstellung des Bildes als herkömmliche „Flachware“ zu überwinden. Sein Werk „Blå skjorte“, das neben Manzonis blaugrundiertem „Achrome“ hängt, hat die Anregungen der örtlichen Textilproduktion aufgenommen – denn aus der blauen Leinwand wölbt sich im Relief die Form eines darunter platzierten Hemds. Bei einer anderen weißmonochromen Arbeit hat der Künstler tatsächlich Hemdenstoff auf den Rahmen gespannt, das Bild lässt sich durch die vertikale Knopfleiste in der Mitte öffnen. Das sieht aus wie Lucio Fontanas Leinwandschlitzungen. Nur praktischer. Und lustiger.

Wandarbeit von El Anatsui bei der Socle du Monde Biennale
Wandarbeit von El Anatsui im Glockenturm der Kirche Sankt Johannes. © Courtesy the artist/Foto: Ole Jørgensen

Textilien sind ein roter Faden bei der Biennale, der sich auch durch die Hauptausstellung im Heart zieht, die mit Werken der italienischen Arte Povera einen weiteren Schwerpunkt der hauseigenen Sammlung präsentiert. Das Interesse dieser Künstler für „billige“ Arbeitsgrundlagen erstreckte sich unter anderem auch auf das Material Stoff – man erkennt das gut in den Altkleiderhaufen von Michelangelo Pistolettos „Orchestra di Stracci“, zwischen denen elektrische Teekessel dekorativen Wasserdampf auf Glasflächen pusten oder auch in den verzierten Zeltwänden von Mario Merz’ ”Igloo“ (1983). Als Kontrast zu diesen wohletablierten Positionen werden einige hundert Meter entfernt im Hochhausbau einer ehemaligen Volkshochschule Arbeiten von weniger bekannten dänischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt, die sich bei einem Open Call beworben haben. Es mag auch mit den Entscheidungen der Jury zu tun haben, aber beim Rundgang meint man, als Trend eine gestiegenen Wertschätzung fürs Handarbeiten zu spüren: Ein kleiner Schaukasten enthält eine Installation mit Häkeldeckchen und Plastikschwein von Lene Abildgaard Knudsen, ihre Kollegin Jette Mellgren lässt bei „Memory“ (2021) Textilblumen auf der Ziegelwand erblühen und bei Nina K. Ekmans „Forest Bathing“ (2020) scheint ein Birkenwald in einer Lache aus Stoff zu zerfließen.

Die Wandarbeit "Forest Bathing" (2020) von Nina K. Ekman ist ein Hingucker bei der Socle du Monde Biennale in Herning. © Courtesy the artist/Foto: Ole Jørgensen

Auf erkenntnisreiche Weise lassen sich die Gedanken weiterspinnen: Der schimmernde Wandbehang des ghanaischen Künstlers El Anatsui, der im Glockenturm der Sankt Johannes Kirche im Stadtzentrum hängt – und den man in ähnlicher Form schon so oft an anderen Orten gesehen hat–, wirkt im Kontext dieser Biennale doch wieder neu und anders. Man begreift nämlich, dass dieses Werk ja auch eine große Textilie im Sinne eines gewobenen Gebildes ist. Bloß hier eben handgeknüpft aus Altmetall und recycelten Plastikteilen.

Gestrickte Sonnenblumen

Am prägnantesten wirkt allerdings jener Part der Biennale, der am zweiten Ausstellungsort im Stadtzentrum, dem Textilmuseum, integriert wurde: Hier sind in die Dauerschau ziemlich starke und überraschende Werke von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern eingestreut. Bei der Arbeit „New Seeds spring Up“ (2001) von Maria Roosen liegen riesige verkohlte Sonnenblumen aus den Boden, aus deren Stängeln kleine grüne Sprossen treiben. Das ganze Werk ist gestrickt, und man hätte nicht geglaubt, dass Wolle derart befremdlich wirken kann.

Bodenarbeit "New Sees spring Up" (2021) von Maria Roosen. © Courtesy the artist/Foto: Gunnar Merrild

Richtiggehend beklemmend ist der Anblick von Charles Le Drays Miniaturinstallation „Four Corners“ (1994–2017) – der New Yorker Künstler hat vier winzige Hemden um die Ecken einer Holzkiste drapiert – und der Lumpengebilde der Norwegerin Kari Anne Helleberg Bahri, die sie vielleicht etwas zu überdramatisch in kleinen dunklen Lagerkammern inszeniert. Es sind solche Momente, in denen die Kunst magisch bis unheimlich erscheint, die im Gedächtnis bleiben, lange nachdem man aus Herning abgereist ist. Für eine Biennale kann diese Eindrücklichkeit nur gut sein.

Service

Ausstellung

„Socle du Monde Biennale 2021“,

Herning Museum of Contemporary Art, Herning, Dänemark

bis 31. Oktober 2021

heartmus.dk

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