Ausstellungen

Jan Toorop, Meister der niederländischen Moderne

Wanderer zwischen den Welten – zu entdecken im Bröhan-Museum in Berlin

Von Sabine Spindler
01.03.2017

Auf den geballten Mystizismus, der den Zeichnungen und Gemälden des Niederländers Jan Toorop entströmt, war die Münchner Kunstgemeinde im Jahre 1893 nicht vorbereitet. Sie kannte wohl Franz von Stucks dämonisches Gemälde „Luzifer“ mit den stechenden Augen des Erzengels oder den knabenhaften, geflügelten „Wächter des Paradieses“, mit denen der Secessionsgründer auf die Mächte des Jenseits anspielte. Aber der düstere Symbolismusimport aus Benelux irritierte in der Glaspalast-Ausstellung, mit der die Münchner Künstlergenossenschaft den Secessionisten so etwas wie einen Gegenschlag versetzen wollte. Nicht unbedingt schmeichelhaft beschrieb der Kunstkritiker Ludwig Hevesi in einem viel späteren Artikel die Ausstellung als „die Zeit, da man in München das Kabinett, in dem Toorop seine Bilder hängen hatte, die Folterkammer nannte“. Aber er konnte sich diesen hypnotischen Heroen, Verlorenen, Be- und Unterdrückten zwischen Unterwelt und priesterlichen Kultstätten nicht entziehen und gestand: „Die Wiederentdeckung der Seele ist die Tat der neuen Kunst.“

Die mystische Welt Toorops

Nach mehr als hundert Jahren war das Werk Jan Toorops bis Anfang des Jahres erstmals wieder in einer Ausstellung in der Villa Stuck zu sehen. Verstörend, unergründlich und fantastisch ist es geblieben. Der Künstler steigt tief hinab in die Verliese der Fantasie. In die Kammern, wo ungeahnte Kräfte und die Melancholie, das strahlend Göttliche und das Bedrohliche wohnen.

Toorop hatte unverkennbar die Vision, mit seinen Bildern das Unaussprechliche zu berühren. In strahlend blauem Mantel ist auf dem Pastell „Rodeurs“ eine Jungfrau auf einem Hügel jenseits einer Friedhofsmauer eingeschlafen. Das Gebetbuch neben ihr aufgeschlagen, zur Rechten ein braves Mädchen um sie betend, zur Linken finstere Gestalten, die wie Untote aus der Erde aufsteigen und nach ihr greifen. Toorop hat dieses Bild in kaltes Mondlicht getaucht und mit zahlreichen Attributen des Todes ausgestattet. Die Trauerweide, die bizarren Äste, das weiche Moos, auf dem man Ruhe findet, sind unübersehbar ein Abgesang auf das Leben. Zu dieser Zeit befand sich der Freund Piet Mondrians, Georges Seurats und Fernand Khnopffs in seiner stürmischsten symbolistischen Phase. Er sah die Welt als einen großen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Höherem und Niederem. Die einst für ihn wichtige spätimpressionistische Malerei, wie die „Dame mit Sonnenschirm“ oder das duftige „Trio Fleuri“ aus dem Jahr 1885, interessierte ihn nicht mehr. Ihn bewegte der Gegensatz zwischen Geist und Materie, zwischen Traum und Wirklichkeit. Er trat an, die Geheimnisse einer mystischen Welt zu ergründen.

Wie so viele Zeitgenossen in den 1880er- und 1890er-Jahren fühlte sich auch Jan Toorop zur Theosophie, einer Gegenbewegung zum Rationalismus, hingezogen. Wo die Welt mit den Mitteln der Vernunft nicht mehr erklärt werden kann, ist eine neue Spiritualität nicht weit. Kulturkrise, Gesellschaftskrise, Verelendung großer Teile der Bevölkerung – das waren Gründe genug für kosmische Erweckungstheorien. Der in Intellektuellenkreisen gepflegte neue Glaube an eine göttliche Harmonie speiste sich aus allen Weltreligionen und der vorchristlichen Mythologie. Toorop war diesem mystisch-religiösen Erlösungsgedanken durchaus verfallen. In Zeichnungen wie „Die Sphinx“ ist das erfahrbar. „Ich versuche, in der Sphinx den ewigen Dualismus im Menschen wiederzugeben, der trotz allem einem Ideal auf Erden nachstrebt“, schrieb er 1898, ein Jahr nachdem er die Zeichnung fertiggestellt hatte. Das rätselhafte Mischwesen schaut darin mit blasierter Eitelkeit auf ein auf einer Weltkugel aufgebahrtes Paar. Ein großer Klagechor zieht hinterher. Die Zeichnung „L’Annonciation du Nouveau Mystique“ (Verkündigung einer neuen Mystik) mit ei- ner nackten Jungfrau vor einem Kreuz verrät schon im Titel, dass Toorops Werk stark um einen Erneuerungsgedanken kreiste. Ein paar Jahre war er gar Mitglied des Ordre de la Rose-Croix in Paris, der Rosenkreuzerorganisation, die auch andere Künstler wie Ferdinand Hodler oder den Komponisten Erik Satie anzog.

Sigmund Freuds Psychoanalyse war die Bestätigung für das, was die Grenzgänger zwischen realer und verborgener Welt ahnten: Die Wahrheit liegt unterhalb der Oberfläche. Die Kunst wandte den Blick nach innen zum Unbewussten. Das blieb nicht ohne Konsequenzen für den Stil. Das naturalistische Abbild der Wirklichkeit verkam jetzt zu einem Trugbild des Seins. Die Illusion des Räumlichen war überflüssig geworden, die Flächigkeit bot mehr Wahrhaftigkeit. Sie garantiert die Gleichrangigkeit der Gegensätze, die den ewigen Widerstreit des Lebens ausmachen.

Wie etwa in der 1893 entstandenen Zeichnung „Gesang der Zeiten“, einem Hauptwerk Toorops, in dem auch seine sozialkritische Haltung anklingt. Das Blatt ist ein Vexierbild, das die menschlichen Verstrickungen im Kampf zwischen Materiellem und Geistigem andeutet. Die Sphinx als Symbol der Verführung wird von einem Jüngling mit viel Kraft am Boden gehalten. Ganz links erscheint Kain, der biblische Brudermörder, mit Schaufel und Spitzhacke als Personifikation der materiellen Gewalt, am anderen Rand versinnbildlicht Abel die Mächte des Guten. Mittendrin, verschlungen in einem Strick aus Haaren, die geistige Anarchie als Frau mit den Attributen Herz und Blume dargestellt. Toorop stellt nicht nur seine Motive in den Dienst einer Erneuerungsreligion durch Kunst. Kein anderes Werk zeigt besser, wie progressiv Toorop mit den Ausdrucksmitteln umgegangen ist. Die Natursymbolik ist verschwunden zugunsten einer dekorativen, sinnhaften Verwendung von fließenden Linien, die sich gegenseitig durchdringen und dem Dargestellten eine bereits abstrakte Textur geben. In vielen Zeichnungen beherrscht Toorop die Linie wie ein emotionales Signal. Manche nennen ihn auch deswegen einen Magier der Linie.

Wer sich um die Jahrhundertwende mit der Mystik der Menschheitsgeschichte beschäftigte, war meist mit Literatur vertraut. Zahlreiche Motive Toorops verweisen auf seine Belesenheit und seine Liebe zur Musik. In Frankreich und Belgien, aber auch Deutschland hatte der Symbolismus ein wortreiches poetisches Pendant, eine unerschöpfliche Quelle für jeden Zeichner und Maler. Man las Paul Verlaine, Stéphane Mallar­ mé, aber auch Maurice Maeterlinck und Lodwijk van Deyssel, mit denen Toorop persönlich bekannt war. Van Deyssels Poem „Apokalypse“ hat Toorop 1891 stark beschäftigt. Dazu entstand eine Reihe von Zeichnungen. Zu der, die in Mün­chen zu sehen ist, gab Toorop ganz kon­krete Interpretationshinweise und damit zugleich Einblick in seine Gedanken­ werkstatt: „Die zwei Figuren rechts und links unten in der Zeichnung ist das Lei­den auf Erden, die große Figur ist das Sterben, das Absterben des irdischen Kör­pers … im Hintergrund die Flammen, die sich in Stein verwandeln, ist das Ver­schwinden der irdischen Leidenschaft, das Sterben, das Erstarren.“

Die Jenseitsfantasien der Kunst um 1900 polarisierten. Manche lehnten sie vol­ler Unverständnis ab, aber in den Salons der Moderne feierten sie ihre Erfolge. In kaum einer Rezension fehlten Bemerkun­gen zu Toorops Zeichnungen und Gemäl­den. Er stellte in vielen Ausstellungen in den Niederlanden aus, aber auch in der legendären Gesellschaft La Libre Esthé­tique in Brüssel. In Italien und in Deutsch­land nahm man sein Werk voller Neugierde wahr. Aber vor allem auch in Wien, wo Gustav Klimt und Egon Schiele in den Secessionsschauen vehement nach dem anderen Ich fragten. Klimt fühlte die Seelenverwandtschaft. Der Einfluss von Toorops flächigen, durch Reihungen von Frauenfiguren geradezu hermetisch abge­riegelten Zeichnungen, seine von schlangenähnlichen Mähnen umrahmten Ge­sichter sind beispielsweise in Klimts „Beethovenzyklus“ zu erkennen.

Die Frauen in Toorops Leben

Als einer der bedeutendsten symbo­listischen Maler hat Toorop den Kampf der Gegensätze mit einer Fülle von Chif­fren und Andeutungen in seinem Werk visualisiert. Im eigenen Leben hat er ihn besonders in seiner Ehe mit der Englände­rin Annie Hall gespürt, die er 1886 gehei­ratet hatte. Ein Jahr nach der Hochzeit er­krankte der damals 29­Jährige an Syphilis, zudem starb die gerade geborene Tochter. Wenig später kam seine zweite Tochter Charley zur Welt, die Toorops Augenstern werden sollte. Seine Ehe konnte das nicht retten. Sie bestand nur noch auf dem Pa­pier. Wie der Toorop­-Spezialist und Kura­tor der Münchner Ausstellung Gerard van Wezel meint, spiegelt sich diese Situation in seinem ätherisch angelegten Blatt „Die drei Bräute“ von 1892 wider: die Braut als geistliche Schwester, als fleischlich­eroti­sche Projektion und als Kriegerin.

Frauen spielen in Toorops Kunst wie bei vielen Symbolisten eine wichtige Rol­le. Aber anders als Franz von Stuck oder Fernand Khnopff hat er sie weniger aus dem erotischen Blickwinkel als Femmes fatales gesehen, sondern als unnahbare Herrscherinnen, als Opfer oder Versinn­bildlichung des durch das Böse leicht verführbaren Reinen wie etwa in „Une Main mysterieuse“.

Erstaunlich in Toorops Œuvre ist, dass er fast bis zu seinem Lebensende immer wieder aus dem Reich dunkler Fantasien in die lichte Farbigkeit pointillistischer Bilder wechselte. Es scheint, als sei er als Zweifler und kritischer Geist Symbolist – aber als Liebhaber der Natur, des Lichts, des irdischen Lebens in den Fischerdörfern und in den Straßen von Amsterdam kam er immer wieder auf die Anfänge seiner Laufbahn zurück.

Nur zwei Jahre studierte der 1858 in Java geborene und dort bis zu seinem zehnten Lebensjahr aufgewachsenen Toorop an der Reichsakademie der bildenden Künste in Amsterdam, dann ging er 1882 nach Brüssel, wo er mit den von ihm bewunderten Malern James Ensor und Théo van Rysselberghe, aber auch mit dem gleichaltrigen Fernand Khnopff in Berührung kam.

Pointillismus

Toorop arbeite damals mit Verve und Talent in einem spätimpressionistischen Stil, aber ihn Wahrheit interessierte ihn die europäische Avantgarde. Zwar besuchte er in dieser Zeit auch James McNeill Whistler und die Präraffaeliten in London, die ihre Spuren in seinem Werk hinterließen – in Brüssel aber wurde er zum Pointillisten. Die Punkt für Punkt gesetzten Farbtupfer galten in dieser Zeit als Schritt zu einer objektiven Malerei. Der Farbkontrast war das Fundament dieses Stils. Toorop, der sich zu den einfachen Leuten hingezogen fühlte, benutzte diese Technik selbst für sozialkritische Sujets wie „Vor dem Streik“ oder „Ein Sterbender“. In manchen Gemälden wie zum Beispiel in „Die Umgebung von Broek in Waterland“ von 1889 sind seine Farbkontraste so extrem und überhöht, dass manche schon eine Ankündigung des Symbolismus darin sehen.

Das Wechselspiel des Lichts bleibt eine wichtige Inspirationsquelle. Viele Jahre lang fuhr er in den Sommermonaten nach Domberg an die Nordsee, um dort die einmalige Atmosphäre zu studieren. Später in Katwijk, wo der Künstler 1890 hinzog, benutzte er den Pointillismus in einer äußerst verfeinerten, subtilen Art für Seestücke und für Porträts.

Toorop selbst hat sich immer als Suchender der Moderne verstanden. Es hat viele Stile ausprobiert. Dass er van Gogh bewundert hat, kann man vielleicht an seinem fast in einem Farbrausch zerfließenden Gemälde „De Vloet“ (Die Flut) erkennen, in dem die Wellen wie Walzen auf die Küste zurollen. Die Sujets seiner Spätwerke sind stark katholisch geprägt. Manche Kritiker vermu- ten, dass er in seinen späteren Lebensjahren den Katholizismus als eine Reinform der Theosophie angesehen hat. Kreuzwegstationen, Nonnen, Betende und Pilger standen nun im Zentrum seiner Arbeiten. Ein steifes Pathos liegt über den gekonnt komponierten Bildfindungen. Aber er bleibt konsequent modern. Er abstrahiert die Gewänder und Gesichter, er teilt sie fast kubistisch auf in geometrische Felder. Ein Feldzug gegen die Neostile, die gerade in der katholischen Kunst so verbreitet waren.

Um 1910 wendet sich der längst berühmte und mit vielen Illustrations- und Bucheinbandaufträgen bedachte Künstler wieder einem neuen Stil zu. Er entdeckt die Kraft der Altmeisterzeichnung und schafft, ähnlich wie Ferdinand Hodler in der Schweiz zu dieser Zeit, mit einem minutiösen Realismus menschliche Gesichter von archaischer Ausdruckskraft, während Hintergrund und Kleidung der Moderne verpflichtet sind. Er war überzeugt, dass gerade durch den Kontrast zwischen dreidimensionaler Figuration und geometrischer Abstraktion die von ihm seit jeher thematisierten Lebensgegensätze anschaulich zum Ausdruck gebracht werden.

Als Jan Toorop am 3. März 1928 in Den Haag starb, trauerten die gesamten Niederlande. Man sprach seinen Namen in einem Atemzug mit Rembrandt aus. Seine Beerdigung glich einem Staatsbegräbnis. Es ist Zeit, sich mit der dunklen und der hellen Seite eines der wichtigsten Avantgardisten Europas wieder auseinanderzusetzen.

ABBILDUNG GANZ OBEN

Jan Toorop, Zeichnung „Die Sphinx“ von 1892-97 (Foto: Sammlung Gemeentemuseum Den Haag)

DIESER BEITRAG ERSCHIEN IN

WELTKUNST Nr. 121/2016

Ausstellung

Jan Toorop. Gesang der Zeiten

Bröhan-Museum, Berlin

bis 21. Mai 2017

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