Zum ersten Mal in Europa rückt eine Ausstellung queere Kunstschaffende von 1900 bis 1950 in den Mittelpunkt und schließt damit eine Lücke im Kanon der Moderne
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30.10.2025
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WELTKUNST Nr. 248
Liebe kann manchmal so einfach sein: Zwei Menschen stehen auf einem Rummelplatz und scheinen Zeit und Welt vergessen zu haben. Allein die Präsenz ihres Gegenübers zählt für sie in diesem Moment. Eine solche Szene voller Zärtlichkeit malte Gluck 1937 in „Bank Holiday Monday“. Wobei im Bild eine gewisse Spannung enthalten ist: Die hintere Figur mit dem Mantel legt ihren Kopf leicht schief, als würde sie ihre nächste Handlung abwägen, die wir Zuschauer nur erraten können. Wird sie die Figur mit dem Schal umarmen, ihren entblößten Hals küssen? Die zwei könnten Männer sein – aber wenn man Glucks Biografie kennt, sind es wohl eher Frauen: Im Jahr bevor sie dieses Bild schuf, hatte die englische Malerin mit der Mäzenatin und Dramatikerin Nesta Obermer die große Liebe ihres Lebens kennengelernt.
Gluck, die den Nachnamen ihrer vermögenden Familie Gluckstein zu einem genderneutralen Pseudonym ohne Vornamen verkürzt hatte, ist eine Protagonistin in der aktuellen Ausstellung „Queere Moderne. 1900–19502 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Erstmals in Europa widmet sich eine Schau umfassend diesem Thema und zeigt mehr als 130 Werke von drei Dutzend Kunstschaffenden, die lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender waren. Wer durch den klug konzipierten Ausstellungsparcours läuft, wird feststellen, dass hier keine alternative Kunstgeschichte aus den marginalen Zonen des Kanons erzählt wird. Nein, man muss es so sagen: Die Schau macht den Kanon überhaupt erst wieder komplett – denn sie gibt der Moderne endlich einen verlorenen Teil ihres Kerns zurück! Lange haben uns die Kunsthistoriker weismachen wollen, es hätte in dieser Epoche nur einen einzigen bedeutenden Entwicklungsstrang in Richtung fortschreitender Abstraktion gegeben. Doch in Wirklichkeit war die Kunst damals stilistisch plural: „Es gab in der Moderne ein reiches Spektrum von unkonventionellen, innovativen und unabhängigen Ausdrucksformen“, sagt Anke Kempkes, Gastkuratorin in Düsseldorf und Ideengeberin der Schau, und fügt hinzu: „Tatsächlich standen viele der hier gezeigten Künstler*innen zu Lebzeiten im Zentrum kosmopolitischer Kulturszenen und stellten in renommierten Galerien und Institutionen aus.“
Der schwedische Maler Nils Dardel zum Beispiel kam 1910 nach Paris, angelockt vom brandneuen Fauvismus. Die Einflüsse von Henri Matisse lässt sein in Düsseldorf ausgestelltes, symbolhaft betiteltes und etwas verrätseltes Hauptwerk „Der sterbende Dandy“ (1918) erkennen. In Paris lernte Dardel die Kunsthändler Wilhelm Uhde und Alfred Flechtheim kennen, die er beide porträtierte. Flechtheim stellte ihn 1913, im Gründungsjahr seiner Düsseldorfer Galerie, aus. Die beiden hatten auch eine kurzzeitige Affäre. Eine weitere Liebesbeziehung verband den Maler mit dem schwedischen Kunstsammler Rolf de Maré, für den er Bilder kaufte, darunter „Jeunes femmes“ (1910) von Marie Laurencin. Dieses Werk der französischen Malerin hing im Jahr 1911 im Salon des Indépendants – in einer für den Kubismus enorm wichtigen Ausstellung. Laurencin hatte ihr Atelier im Bateau-Lavoir und war mit dem Dichter Guillaume Apollinaire liiert. Später hatte sie dagegen zahlreiche lesbische Beziehungen, die sie keinesfalls zu verheimlichen suchte.
Die damals freiheitlich gelebte Sexualität ist nicht in jedem Werk offen abgebildet. Eine Zeichnung der surrealistischen Malerin Toyen mit dem Titel „Hermaphrodite au Coquillage“ von 1930, die eine in der Körpermitte zerrissene Figur mit Brüsten und Penis zeigt, ist schon eine überraschend explizite Darstellung von Intergeschlechtlichkeit. Und in den männlichen Badeszenen von Duncan Grant oder Henry Scott Tuke kann man noch relativ klar homoerotisches Begehren herauslesen. Hingegen lässt sich im Porträt „Lili with a Feather Fan“ (1920) von Gerda Wegener, das im konventionellen Belle-Époque-Stil gehalten ist, nicht unbedingt erkennen, dass die Abgebildete eine Transfrau ist, die hier von ihrer Ehefrau verewigt wurde. Ein Hinweisschild informiert, dass Lili Elbe einer der ersten Menschen war, die sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen.
Dass Geschichten wie die von Elbe und Wegener aus dem Kanon der Moderne herauseditiert wurden, hat laut Kuratorin Anke Kempkes nicht nur mit dem disruptiven Effekt des Zweiten Weltkriegs zu tun, sondern vor allem auch mit dem konservativ-repressiven Klima der ersten Nachkriegsjahrzehnte: Plötzlich standen nur noch heterosexuelle Männer im Zentrum der Kunstwelt, ein machozentriertes Rollback. Da unsere heutige freiheitliche Gesellschaft einige Parallelen zur queeren Moderne hat, sollten wir die Ausstellung auch als ein warnendes Signal zur Wachsamkeit begreifen.
„Queere Moderne. 1900–1950“
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20)
bis 15. Februar 2026