Ihre Heimat Australien feierte Emily Kam Kngwarray, in Europa blieb sie dagegen fast unbekannt. Das ändert nun eine Retrospektive in London
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30.09.2025
Auf den ersten Blick wirken die Bilder abstrakt. Getupftes Rot, Gelb und Braun füllen die Leinwände. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, kein Oben und Unten, keinen Vorder- und Hintergrund. In einem Saal der Tate Modern in London versammeln sich etwa zwanzig dieser Werke aus den Jahren 1988 bis 1990, meist 150 mal 120 Zentimeter groß. In der Mitte des Raums hängen acht Batiken aus Seide und Baumwolle von der Decke. Ähnliche Farben, aber ein an Flora und Fauna erinnernder Strichgestus verunsichert den von der westlichen Kunstgeschichte geprägten Blick. Was sieht man hier eigentlich?
Der Raum zeigt den Wechsel von Batik auf Leinwand, den Emily Kam Kngwarray, die zu Lebzeiten als Emily Kame Kngwarreye bekannt war, in dieser Zeit vollzog. Erst mit Ende Siebzig begann die Künstlerin zu malen und schuf – bis sie 1996 verstarb – in nur acht Jahren ein umfangreiches Werk von über 3000 Gemälden, das in Europa fast unbekannt ist. In Australien jedoch erlangte sie noch zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit, ihre Kunstwerke wurden von Sammlungen erworben und von Kritikern hoch gelobt. 1997 vertrat sie posthum ihre Heimat bei der Biennale in Venedig im Rahmen einer Gruppenausstellung, und ihr Auktionsrekord steht bei rund 1,5 Millionen Dollar. Von der Nationalgalerie Australiens übernimmt die Tate nun eine Retrospektive der Ureinwohnerin aus Sandover im Nordterritorium mit über 80 Werken, von denen zwei Drittel noch nie in Europa zu sehen waren.
Die Schau folgt chronologisch den letzten Schaffensjahren Kngwarrays, deren Kreativität sich am Anfang auf die Arbeit mit Stoffen konzentrierte. Nach Jahren der Batikproduktion in der Aborigines-Siedlung, in der die Künstlerin lebte, führte die Central Australian Aboriginal Media Association (CAAMA) 1988 Acrylfarben und Leinwand als Kunstmaterialien ein. Kngwarray war da bereits anerkannter „Boss der Batik“, und der Wechsel der Arbeitsmedien fiel ihr leicht. Sie arbeitete im Freien auf dem Boden unter dem Wüstenhimmel und malte, die Leinwand auf dem Schoß, von außen nach innen. Dabei drehte sie die Bilder oftmals während des Malens und nutzte abwechselnd Finger und Pinsel.
Das Thema aller Werke ist die spirituelle Verbundenheit zur Natur und zu den Vorfahren. Kngwarrays Bilder reihen sich so in eine lange Tradition zeremonieller Kunst ein, die sich auch in Sandmalereien und Körperbemalungen der Aborigines manifestierte. Als Einstimmung hört man zu Beginn der Londoner Ausstellung den Gesang, der die spirituellen Erfahrungen stets begleitete und den Kngwarray mit den Frauen ihrer Gemeinschaft praktizierte. Doch obwohl ihre Kunst derart tief in ihrem kulturellen Hintergrund verwurzelt ist und sie die Herausforderungen aller Aborigines im Zuge der Kolonialisierung teilte, entwickelte sie einen einzigartigen Stil.
Von 1989 bis 1991 verdichteten sich die traditionellen Punkte, die man aus vielen anderen Kunstwerken der australischen Ureinwohner kennt, zu pulsierenden Geweben, die sich immer wieder zu verändern scheinen. Ab 1992 verband sie in stets größer werdenden Formaten Punkte zu Linien. Titel wie „Anwerlarr anganenty (Big yam Dreaming)“ legen Interpretationen als Traumlandschaften nahe. Im metaphysischen Konzept der „Traumzeit“ manifestieren sich für die Aborigines Ahnenwesen in der Geografie und Natur des Landes und werden in Ritualen gefeiert. Von besonderer Bedeutung für Kngwarray sind Anwerlarr (Bleistift-Yamswurzel) und Ankerr (Emu), die sich auf vielen Bildern in Form von Umrissen oder Spuren finden. Im Ausstellungskatalog heißt es: „Als Hüterin ihres Landes und führende Vertreterin der Gesänge der Frauen ihres Stammes und ihrer Zeremonien, basieren ihre Gemälde auf dem tiefen Wissen über diese Traditionen, die von Generation an Generation weitergegeben werden, wie auch die ökologischen Systeme ihrer Umgebung, der australischen Wüste.“
In „Alhalker – My Country“ erzeugt die Überlagerung verschiedener Motive wie der Yams, der Sandmalereien, Körperverzierungen sowie der Landschaft ein Netz von Beziehungen. Solche Muster spiegeln den Mikro- wie den Makrokosmos wider, was an Filmen und Fotografien, die die Ausstellung begleiten, deutlich wird: Luftaufnahmen der Region erinnern ebenso an Kngwarrays Bilder wie Detailaufnahmen des Erdbodens mit Blättern und Zweigen. So fügt die Künstlerin Fernblick und Nahsicht zusammen, und ihre Arbeiten verweisen auf das anhaltende Vermächtnis ihrer Kunst, das neben dem Land auch die weibliche Solidarität ehrt. Die Frauen ihrer Gemeinschaft bezeichnen Kngwarray als „alte Frau“, ein Titel, dem Respekt innewohnt.
Die Ausstellung ist eine wichtige strategische Positionierung für die Tate, um die Kunst aus dem globalen Süden und von Künstlerinnen allgemein zu fördern – ein Ziel, das es nun ermöglicht, die Werke dieser bedeutenden Malerin in einer bisher unbekannten Fülle zu sehen. Man sollte sich die Chance nicht entgehen lassen. Die Schau wird auch von den Weggefährtinnen des Stammes befürwortet. Eine noch lebende Verwandte, Jedda Kngwarray Purvis, fordert uns auf: „Hört euch die Geschichten an, die sie erzählt, und die Lieder der Frauen, die sie singt.“
„Emily Kam Kngwarray“,
Tate Modern, London,
bis 11. Januar 2026